Predigt des Monats

Hier finden Sie besondere Predigten, die wir gern zum Nachlesen oder Nachhören zur Verfügung stellen.

04.07.2021: Verabschiedungspredigt zu Epheser 2,8 von Dr. Astrid Zinnecker-Rönchen

„Aus Gnade seid ihr gerettet durch den Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es.“

Liebe Gemeinde,

das hier ist meine offizielle Verabschiedung aus dem Amt einer Lektorin in der Auferstehungsgemeinde Wien, und also halte ich heute meine Abschiedspredigt.

Lang ist es her, dass ich zuletzt auf dieser Kanzel stand und Euch eine Predigt gehalten habe. So lange, dass womöglich manche, die heute unter Euch sitzen, mich noch gar nicht kennen.  Im November 2019 war das, dass ich zuletzt hier stand.

Lang ist’s her, und so vieles ist seither passiert – vor allem der plötzliche Tod meines Lebensgefährten Eckart im Dezember 2019, der mich zwang, kurzfristig nach Deutschland zurückzugehen. Mitsamt der Notwendigkeit, den Neuaufbau meines Lebens dort unter Coronabedingungen zu bewältigen. Ohne ein familiäres Netz oder partnerschaftliche Unterstützung, allein mit dem Hund in einer fremden Stadt, die alten Freunde dort in der Umgebung durch die Begegnungseinschränkungen schwer verfügbar. Es war eine sehr einsame Zeit.

Vieles erscheint im Nachhinein wie in Zeitlupe geschehen, anderes im Zeitraffer. Ich habe all das halbwegs bewältigt. Aber es gab Tage und Nächte, da war ich am Ende meiner Kraft. Da konnte ich keinen Schritt mehr weiter gehen, keinen Plan mehr machen, keine Bewältigungsstrategie mehr entwerfen.  Ich weiß nicht, wie ich das alles überstanden habe.

Ich bin kein frommer Mensch. Ich glaube nicht, dass man nur zu Gott beten muss und alles wird gut. Ich glaube nicht, dass Gott es schon richten wird. Das Leben kann absolut hinterhältig und gemein zu uns sein, und kein noch so tiefer Glaube bewahrt uns davor.

Aber ich glaube, denn ich habe es immer wieder erlebt, gerade auch in dieser Zeit: wenn ich an dem Punkt bin, an dem mir nichts anderes mehr einfällt, als mein ganzes Elend Gott in den Schoß zu schmeißen und zu sagen: „Mach Du was, ich kann nicht mehr“, dann kommt -  irgendwann, irgendwie - ein seltsamer Frieden auf in mir. Tröstung. Getröstet werden. Getrost sein.

Und vielleicht ist das ja dann Gottes Geist, der da wirkt. Das denke ich mir. Das glaube ich.  Geist Gottes. Der Tröster. Der Evangelist Johannes nennt ihn den Tröster.
Der Geist Gottes ist Gottes Gabe, und das äußert sich im Glauben, aber er reicht viel weiter als der Glaube. Er kann auch da sein und wirken, wo es zum Glauben nicht mehr reicht.
Und wenn dieser tröstende Geist kommt, ist das kein großes Brausen mit viel Wind, kein spektakuläres Geschehen, keine überwältigende Ekstase. Sondern manchmal einfach nur eine Kraft, die dich auffängt. Die dich bewahrt vor dem völligen Zusammenbruch.  Die Dich zurückhält vor dem Verschwinden im großen Nichts. Eine Kraft, die verhindert, dass du untergehst im Sog der negativen Kräfte dieser Welt. Eine Kraft, die dich befähigt weiterzumachen. Noch einen Tag und noch einen Tag.

II.

Der Geist Gottes, liebe Gemeinde, ist die Weise, wie Gott, der Vater Jesu Christi, bei uns Menschen gegenwärtig ist. Er kommt in dunklen Stunden. Und auf leisen Sohlen. Er macht kein großes Gewese und Geschrei. Schwer zu erkennen ist er, oft anonym. Oft merkt man es gar nicht, dass das Gottes Geist war, der einen da durch die Krise getragen hat. Dass es der Geist war, der uns in unserem Elend gehalten und nicht losgelassen hat.

Es ist dies ja eine merkwürdige Zeit. Wohl dem, der in dieser Corona-Zeit eingebunden war in einem freundlichen menschlichen Umfeld. Wohl dem, der im Lockdown eingebettet war in einer Partnerschaft, eine Familie, eine Wohngemeinschaft, in der er sich wohlfühlen und entspannen konnte. Viele Menschen dürften in dieser Zeit an ihre Grenzen geführt worden sein. Viele haben sich sehr einsam gefühlt, manche waren es sogar in der Krankheit und im Sterben. Wir alle hatten den Verlust der Nähe zu beklagen, den Verlust der unmittelbaren Begegnung mit anderen Menschen Auge in Auge, Hand in Hand. Uns allen fehlte Berührung, die wir alle brauchen. Das führt einen an die eigene Grenze.
Aber es gab auch das Zusammensein-Müssen mit Menschen, die einem nicht gut tun. In Deutschland gab es deutlich mehr gemeldete Fälle häuslicher Gewalt, das wird in Österreich ähnlich sein. Und es gab bei vielen die Angst um den Job, um die Existenz als Künstler, als Gastwirt oder Friseur. Es gab die Angst um die Zukunft der in der Schule zu kurzgekommenen Kinder, denen viele Eltern nicht genügend helfen konnten. Es gab die Angst um die Angehörigen, die krank wurden und nicht einmal mehr im Sterben besucht werden und Nähe erfahren konnten.

Ich will gar nicht sudern und jammern. Ich will nur sagen: Wir haben viel überstanden. Viele von uns haben ungeheuerliche Belastungen überstanden. Viele sind dabei an ihre Grenzen gekommen. Manche hat es überfordert.
 

III

Liebe Gemeinde,

was mich in dieser Zeit irritiert hat, war das teilweise völlige Unsichtbarwerden und Unhörbarwerden der Kirche.  Es hat Zeiten gegeben, da hätte man in einer solchen Lage von den Kirchen erwartet, dass sie ihren Dienst tun: Das Böse einhegen, das erbarmende Handeln Gottes erbitten, zur allgemeinen Buße und Umkehr aufrufen, Orte des Zuspruchs und des Trostes sein. In dieser Krise, hatte ich den Eindruck, wurden die Kirchen von der Politik ‚ned amol mehr ignoriert‘. Und die Kirchen haben es zugelassen. Sie haben es zugelassen, dass sie als so systemirrelevant betrachtet wurden, dass gottesdienstliche Zusammenkünfte verboten werden konnten, dass Seelsorger von Kranken und Sterbenden ferngehalten werden konnten (als ob Kranke und Sterbende nur eine Versorgung des Körpers bräuchten und nicht auch der Seele…). Die Kirchen haben es zugelassen, dass Beerdigungen zu Kleinstveranstaltungen mit Begegnung- und schon gar Berührungsverbot wurden. Stattdessen gab es online-Darbietungen, die man einzeln vor dem Medium der Wahl konsumieren konnte. Ohne Begegnung, ohne Gemeinschaft. Welcher Geist hat die Kirchen dazu getrieben?

Ich hätte dort oben in Deutschland in dieser Zeit, frisch aus Wien hingezogen, frisch noch den Verlust des Mannes auf der Seele, frisch ohne irgendeinen Menschen in diesem neuen Wohnort zu kennen, Begegnung in der Kirche gebraucht. Das gemeinsame Singen und Hören und Denken. Die Botschaft des Evangeliums, den Trost des Hlg. Geistes, Seelsorge, Begegnung, Zuwendung. Aber auch dort oben: einmachen hat sie sich lassen, die Kirche, aus lauter Angst vor Ansteckung. Natürlich gab es und gibt es guten Grund zu äußerster Vorsicht. Aber in diesem Ausmaß finde ich das zwiespältig.
Die Menschen mussten weitgehend ohne Kirche, jedenfalls ohne eine öffentlich sichtbare und spürbare Botschaft der Kirche auskommen. Und sie sind ohne ausgekommen.

Nun treten sie in solchen Massen aus der deutschen Kirche aus, aus der katholischen sowieso, aber auch aus der evangelischen, dass es monatelange Wartezeiten bei den Kirchenaustrittsstellen gibt. Ich denke, sie treten nicht nur wegen der Missbrauchsskandale aus, die natürlich ungeheuerlich sind. Ich denke, sie treten aus, weil sie in der Pandemie-Zeit in dieser Hinsicht jedenfalls eines gewonnen haben: Die Erkenntnis, dass sie eine solche verzagte Kirche nicht brauchen.

Unser Pfarrer Hans-Jürgen Deml, das sei ausdrücklich gelobt, hat hier in der Lindengasse ja übrigens mit der Offenen Kirche am Mittwoch versucht, unter den schwierigen Bedingungen Begegnung in der Kirche weiter möglich zu machen. Ich wünschte, es hätte mehr solch mutiger Ansätze allerorten gegeben.

IV

Liebe Gemeinde,

es hat ja gar keinen Sinn herumzusudern. Die Kirche hat schon oft in ihrer Geschichte ausgesehen, als würde sie es nicht mehr lange machen. Ob die Kirche diese Krise übersteht, die nicht mit Corona angefangen hat, aber durch Corona noch beschleunigt wurde – ob die Kirche das übersteht, liegt am Ende nicht an uns Gläubigen oder Ungläubigen. Am Ende liegt es an Gott selbst. Die Kirche ist kein Gesangsverein. Sie hat sich nicht selbst gegründet, nicht selbst berufen, sie hat sich nicht selbst ihre Aufgabe gegeben, sie hat sich nicht selbst in die Welt gesendet. Gott hat die Kirche und die Menschen in ihr in seinen Dienst berufen. Er hat der Kirche ihre Aufgabe gegeben, das Evangelium, die gute Botschaft von der unendlichen Liebe Gottes zu den Menschen zu bezeugen, und das nicht nur nach innen, sondern vor allem auch nach außen, in die (noch oder wieder) sich gottlos gebende Welt hinein. Die Kirche, die Gemeinde ist kein Selbstzweck. Gemeinde ist nicht dafür da, dass die Menschen in ihr es sich darin gut gehen lassen. Die Gemeinde ist von Gott berufen und in  Welt gesandt, damit die Welt glaubwürdig bezeugt bekommt, dass Gott es gut mit der Welt meint.

Wenn die Kirche das nicht mehr schafft, diese Botschaft von Gottes unendlicher Liebe zu den Menschen nach innen und nach außen in Wort und Tat zu bezeugen, dann hat sie es verdient, in der Unerheblichkeit unterzugehen.

Und ob die Kirche es schafft, diesem Auftrag gerecht zu werden, ob sie ‚Erfolg‘ hat mit ihrer Botschaft, das hat sie letztlich nicht in ihrer Hand. Das hängt letztlich daran, ob der Geist, der die Kirche beseelt und ihr Denken und Handeln bestimmt, Gottes Geist ist oder doch nur Menschengeist, Kleingeist, Machtgeist, Angstgeist.

V

Liebe Gemeinde,

ich war ja nicht nur Lektorin hier, ich war auch Presbyterin. Und ich habe schon damals mit Sorge auf unsere Gemeinde geguckt. Und tue es heute noch mehr. Für die Auferstehungsgemeinde steht es nach meinem Eindruck Spitz auf Knopf. So, wie es damals war, hätte es auch ohne Corona nicht bleiben können.  Und Corona mit all seinen individuellen Restriktionen und staatlichen und kirchenamtlichen Einschränkungen des Gemeindelebens war in dieser schwierigen Lage, die wir Ende 2019 hatten, das letzte, was wir gebraucht haben.

Heute stellen sich scharf unangenehme Fragen. Wird die Auferstehungsgemeinde als selbständige Gemeinde überleben? Wird sie Teil eines größeren Verbandes werden? Wenn ja, zu welchen Bedingungen? Und wieviel werden ihre Mitglieder dabei mitreden dürfen? Das sind die Fragen, die im Raum stehen und beantwortet werden müssen. Für einige Beteiligte, habe ich den Eindruck, ist das alles schon ausgemachte Sache. Sie unterstellen, dass es einfach zu wenig an der Mitarbeit Interessierte in der Auferstehungsgemeinde gibt.

Aber egal, ob das so ist oder nicht, egal, ob die Lindengasse selbständige Gemeinde bleibt oder nicht,  eines scheint mir gewiss: Die ganze Aktion der wie immer gearteten Zusammenlegung von Gumpendorf und Auferstehung hat nur Sinn, wenn sie im rechten Geist geschieht. Wenn der rechte, der wahre Geist dabei ist und bleibt. Eine geistlose Kirche wird zugrundegehen. Sie hat es auch nicht besser verdient.

Aber den rechten, den wahren Geist hat eine Gemeinde nicht einfach als Besitz zur Verfügung. Der Geist kommt, wann er will. Man kann den Geist nicht einplanen wie einen fixen Posten im Etat, und man kann ihn nicht herstellen. Der Geist entzieht sich der Kontrolle und der Machbarkeit. Und selbst kirchenordnungskonforme und scheinbar höchst demokratischste Vorgehensweisen machen noch lange keine mit dem Geist Gottes und aus ihm lebende, lebendige Gemeinde.

Ich glaube, der Geist kommt nicht nur zum einzelnen, er kommt genauso auch zur Gemeinde da, wo sie am Ende ihrer Kraft und Weisheit ist.  In jedem Fall aber kommt er da, wo ihre Akteure zumindest noch damit rechnen, dass der Geist Gottes kommen könnte. Er kommt da, wo man ihm Raum lässt. Er kommt und er belebt und trägt und stärkt auch schon längst totgeglaubte Gemeinden. Auch solche, die sich selbst schon aufgegeben zu haben scheinen. Und ich glaube und bin dessen gewiss, dass die Auferstehungs-Gemeinde wie die Kirche überhaupt nur eine Zukunft hat, wenn der Geist, der in ihr herrscht, von Gott kommt. Und wenn ihr Geist von Gott kommt, dann werden die Menschen in ihr transparent, offen  und wahrhaftig reden, denken und handeln. Wenn der Geist dieser Kirche von Gott kommt, werden die Menschen in ihr mit jedem reden und jeden anhören, jedem respektvoll und freundlich gegenübertreten und versuchen, für jeden und jede einen Platz bei sich zu finden. Wenn der Geist dieser Gemeinde von Gott kommt, dann werden die Menschen in ihr unverzagt und mit Gottvertrauen an der Zukunft der Gemeinde arbeiten und dabei wissen, dass das Entscheidende nicht von ihnen gemacht wird, sondern dass es  ihnen von Gott geschenkt wird, wenn sie darum bitten.

Unser Pfarrer Hans-Jürgen Deml hat, davon bin ich überzeugt, getan, was er konnte, um in der Auferstehungs-Gemeinde Gottes Geist Raum zu geben und ihn hier Gestalt werden zu lassen. Aber das kann auch ein Pfarrer nicht ohne die breite Unterstützung und Mithilfe der Gemeinde. Wir sind keine katholische Priesterkirche, wir sind die Gemeinschaft der geheiligten Sünder und allesamt miteinander in den Dienst Gottes genommen. Man kann es nicht oft genug sagen: Ihr seid alle eingeladen, nach Kräften mitzuwirken bei der Gestaltung dieser Gemeinde, dieser Kirche. Ohne euch geht es nicht.

VI

Liebe Gemeinde,

bis hierher hatte ich meine Predigt verfasst, bevor ich nach Wien gekommen bin letzte Woche. Aber nun habe ich letzten Mittwoch hier in diesem Raum an einer Versammlung teilgenommen, und  darum muss ich noch eine Erweiterung anfügen.

Letzten Mittwoch haben sich 21 Menschen hier versammelt, 21 Menschen von einer noch längeren Unterschriftenliste, die es geschafft haben, sich an einem kurzfristig anberaumten Termin Zeit zu nehmen, um im Gespräch mit dem Verwaltungsausschuss und der Superintendentialkuratorin darauf zu dringen, dass im Herbst endlich eine neue Gemeindevertretung gewählt werden kann. 21 Menschen haben auf ganz verschiedene Weise zum Ausdruck gebracht, dass diese Gemeinde sich noch längst nicht aufgegeben hat. Und dass sie wollen, dass die Gemeinde auf eine Weise vertreten wird, in der sie ihr Profil und ihre Interessen wahren und auf demokratische Weise mitgestalten kann.

Und ich sage euch ganz offen: wir haben uns dafür sehr ins Zeug legen müssen, denn es hat nicht allen Anwesenden gepasst, was wir wollten. Nämlich dass die von der Kirchenordnung vorgesehenen gewählten Gremien Gemeindevertretung und Presbyterium die Geschicke dieser Gemeinde wieder in die Hand nehmen und ihre Interessen wahren. Da wurden viele Bedenken getragen. Nicht ganz zu Unrecht, denn vor der Gemeinde liegen schwere Aufgaben, die sie alleine gar nicht stemmen kann.

Aber am Ende gilt doch: In so einer kritischen Phase ist es wichtig, dass nicht ein Ausschuss die Gemeinde verwaltet, sondern dass die Menschen dieser Gemeinde über ihre Gemeindevertretung mit dabei sein können, wenn es um die Gestaltung ihrer kirchlichen Zukunft geht.

Das haben wir am Mittwoch erreicht. Alles Weitere hängt an den Menschen hier in der Gemeinde, an den Kandidatinnen und Kandidaten für die Gemeindevertretung, und, daraus kommend, für’s Presbyterium. Und an den Wählerinnen und Wählern. Alles Weitere wird sich entwickeln müssen.

Aber das Phantastische an diesem Abend, und das Berührende daran, das war der Geist, der in dieser Versammlung herrschte. Da war ein Geist der Verbundenheit mit dieser Gemeinde, ein Geist des Beheimatet-Seins in ihr. Ein Geist auch der Aufmüpfigkeit und des Protests gegen das Übergangen-Werden. Ein Geist des Miteinander-gestalten-Wollens. Ein Geist des Sich-einsetzen-Wollens. Und so war auf einmal eine große Menge positive Energie in diesem Raum.

Ob das, liebe Gemeinde, vielleicht ein Hauch vom Heiligen Geist war, der da durch uns durchgeweht ist, das wird sich erst irgendwann im Nachhinein wirklich sagen lassen. Aber ein guter Geist war da, und das, meine ich, ist ein hervorragender Anfang für einen Aufbruch in eine neue Lebensphase der Auferstehungsgemeinde.

Lasst uns dranbleiben, lasst uns diesen Geist hüten und pflegen. Wir können das schaffen. Wenn Gottes Geist uns beisteht, werden wir es schaffen.

                                                                              Amen

 

02.04.2021 Karfreitag, kein Gottesdienst im Corona Lock-Down

Gedanken zum Karfreitag von Pfarrer Mag. Hans-Jürgen Deml über die Tonanlage eingespielt

17.11.2019: Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres - Predigt zu Röm 14,7-9 bzw. Karl Barth von Lektorin Dr. Astrid Zinnecker-Rönchen

Liebe Gemeinde!

Heute habe ich eine ganz unmögliche Aufgabe: Ich soll nämlich im Rahmen unserer Predigtreihe über berühmte Theologen über Karl Barth predigen. Karl Barth ist mir zugefallen, weil ich ihn immer noch für den anregendsten und raffiniertesten Theologen unserer Zeit halte, obwohl er schon mehr als 50 Jahre tot ist.

Nur zur kurzen Orientierung: Karl Barth war ein Schweizer Pfarrer und Theologieprofessor, der vor ziemlich genau 100 Jahren die theologische Landschaft im deutschsprachigen Protestantismus zu erschüttern begonnen hat. Mit extrem scharfsinniger Polemik, großer Kreativität und einem ungeheuren Fleiß hat er die Theologie seiner Zeit vom Kopf auf die Füße zu stellen versucht. Das hat ihn in Gegnerschaft zum sog. Kulturprotestantismus vor und nach dem ersten Weltkrieg gebracht, und später zu den Akteuren und Vertretern des Dritten Reiches. Und bequem war Barth auch später nicht, als es sich die Evangelische Kirche in Deutschland in der CDU-regierten Bundesrepublik bequem machte. Aber das können Sie alles bei Wikipedia nachlesen, bis hinein in sein etwas kompliziertes Privatleben. Uns hier interessiert sein theologisches Reden und Denken.

Und dieses theologische Reden und Denken Barths, das kreiste sein Leben lang darum, dass Gott als Gott wahrgenommen werde. Die theologische Urentdeckung Barths war, dass der Mensch, wann immer er kann und gelassen wird, nichts Besseres mit Gott zu tun weiß, als ihn zur Projektionsfläche seiner Wünsche zu machen. Der Mensch lässt Gott nicht Gott sein, sondern versucht, ihn verstehbar, handhabbar, sinnvoll nutzbar zu machen.

Das Urerlebnis für Barth war, als 1914 alle seine bis dahin verehrten deutschen theologischen Lehrer Erklärungen unterzeichneten, in denen sie die deutsche Kriegspolitik im Namen Gottes rechtfertigten. Hier hatten sich Menschen, die es besser hätten wissen müssen als alle anderen, eindeutig an Gott selbst vergriffen, weil sie ihn den eigenen nationalen Interessen dienstbar zu machen versuchten. Als wäre Gott nur ein Gott der Deutschen!

Das hat Barth in den folgenden Jahrzehnten immer wieder umtrieben, die Frage: Wie können wir so von Gott reden, dass wir seiner Macht und Hoheit nicht zu nahe treten? Dass wir ihn nicht für unsere menschlichen Zwecke einfach dienstbar zu machen versuchen? Ein Gott, mit dem man so etwas machen kann, das ist kein Gott, das ist ein Götze.

Und ein Mensch, der so etwas versucht, verehrt nicht Gott, sondern bastelt sich einen Götzen. Und weil wir alle Menschen sind, deren tiefstes Interesse ist zu bestehen, zu überleben, uns durchzusetzen, darum sind wir alle stets geneigt, Gott zum Götzen zu machen.

Natürlich gibt es auch die Menschen, die Philosophien und Ideologien, die die Existenz Gottes einfach rundweg leugnen, aber das hat Barth nie so problematisch gefunden, wie die Menschen, die Gott (oder, wie man heute gern sagt: das Göttliche, die Transzendenz etc.) eben nicht leugneten, sondern für eigene Zwecke benutzen. Da wird Gott nicht einfach geleugnet, sondern er wird so lange uminterpretiert, bis er ein zahmes Haustier ist, dem menschlichen Wunsch und Willen dienlich.

Für Barth war es klar: Gott musste Gott bleiben, sonst hatte alle Rede von Gott ihren Sinn verloren. Gott ist - ein Wesen? Aber kann ihn als Wesen bezeichnen? Eine Macht? Eine Person? Ein Etwas? das – den Menschen bleibend gegenüber ist. Widerständig gegen alle menschlichen Vereinnahmungsversuche. Letztlich dem Menschen überlegen. Gott ist Gott ist Gott ist Gott…

Liebe Gemeinde, ich habe gesagt, es sei eine unmögliche Aufgabe, über Barth zu predigen.

Unmöglich ist die Aufgabe, über Barth zu predigen, weil das hier ja keine theologische Vorlesung ist und um Gottes willen auch nicht sein soll.

Unmöglich ist diese Aufgabe auch, weil sich so ein großer Denker nicht auf ein paar Zeilen und Sätze reduzieren lässt, ohne dass man ihn grob verkürzt und ihm Unrecht tut.

Unmöglich ist diese Aufgabe aber vor allem deshalb, weil Karl Barth in diesem Moment in seinem Grab rotieren muss. Eine Predigt über einen Theologen, und sei es ihn selbst, das hätte ihm überhaupt nicht gefallen! Das wäre zu seinen Lebzeiten und in seinem Denken ein absolutes No-Go gewesen!

Predigen kann man, soll man, muss man nach Karl Barth die Heilige Schrift, das Grunddokument der Geschichte Gottes mit den Menschen! Predigen soll man über das Wort Gottes! Über Gottes Zuspruch und Anspruch! Über seine in Jesus Christus erwiesene Liebe! Niemals aber über einen noch so klugen und gottgelehrten Menschen.

Ich habe deshalb gedacht, vielleicht ist es am schlauesten, wenn ich heute nicht über Karl Barth predige, sondern mit ihm.

Wenn ich versuche, ausgehend vom Wort der Heiligen Schrift zu sagen, was man nach meiner Erkenntnis mit Barth sagen müsste – zu Gott und der Welt, Jesus Christus und uns.

Und vielleicht wird dabei ja ein bisschen deutlich, was die Eigenart des theologischen Denkens von Karl Barth ausmacht, wo er sich vom kirchlichen Mainstream unserer Zeit unterscheidet, und warum das nach wie vor lebenswichtig – und ich glaube: überlebenswichtig – für die Kirche ist.

Fangen wir also da an, wo alle ordentliche christliche Predigt nach Karl Barth ihren Ausgang nehmen muss: beim Bibeltext. Der biblische Text für diesen Sonntag steht Röm 14,7-9:

„Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.“

Das, liebe Gemeinde, ist eine der steilsten Aussagen der Heiligen Schrift.

„Leben wir, so leben wir dem Herrn. Sterben wir, so sterben wir dem Herrn. So wir nun leben oder sterben, so sind wir des Herrn.“

Lassen wir es uns auf der Zunge zergehen! Da steht nicht: leben wir, so sollen wir uns bemühen, für den Herrn zu leben. Und wenn das gelingt, dann sterben wir schließlich auch dem Herrn. Sondern da heißt es, ganz steil und im Indikativ, in der Form der Feststellung: Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Punktum.

Es geht hier nicht um Argumentation, nicht um Überzeugung, nicht um Plausibilität oder die Abwägung von Wahrscheinlichkeiten. Es geht auch nicht darum, wie wir sind; was wir sind; was wir tun oder was wir glauben; was wir erleben und was wir erspüren.

Es geht einzig und allein um Gott. Gott hat über uns bestimmt.

Das ist, ganz nebenbei, ein Gedanke, der für uns moderne Menschen hochgradig kränkend ist. Dass da eine höhere Macht einfach über unsere Köpfe hinweg etwas mit uns tut, ohne dass wir die leiseste Mitsprache hätten. Ohne dass sie sich an unsere Vorstellungen von Anstand und Gerechtigkeit hält. Ohne dass wir das irgendwie beeinflussen könnten. Da rollen sich den meisten Menschen schon die Fußnägel auf.

Und was hat Gott über uns bestimmt? ‚Sein‘ zu sein, ihm zu gehören, dazu hat er uns bestimmt. Das ist kein Angebot, das man ausschlagen könnte. Es ist zunächst überhaupt kein Angebot, es ist eine Bestimmung, ob wir das wollen oder nicht, das glauben oder nicht. Gott hat uns zur Gemeinschaft mit sich bestimmt.

Und damit hat er zugleich über sich selbst bestimmt.

Das ist eine Kernaussage in Barths Gottesverständnis: Gott hat, indem er den Menschen zur Gemeinschaft mit sich bestimmt hat, zugleich sich selbst zur Gemeinschaft mit dem Menschen bestimmt. Gott hätte wohl ohne uns Menschen Gott sein können. Er wäre dann ja nicht weniger Gott gewesen.

Aber Gott will nicht ohne uns Menschen Gott sein. Er will nicht in seiner majestätischen Einsamkeit ohne uns Gott sein. Das ist der letzte und tiefste und einzige Grund, warum sich die ganze jüdisch-christliche Religion, wie sie in der Bibel bezeugt ist, entwickelt hat. Gott will Gemeinschaft mit uns Menschen. Gott will uns Menschen und er bindet sich an uns. Diese Selbstbestimmung Gottes ist der Urgrund der Schöpfung, und sie hat keinerlei Begründung außerhalb des Willens Gottes selbst.

In der klassischen reformierten Theologie Calvins wird das mit dem Begriff der Erwählung erfasst. Gott erwählt uns, einen jeden einzelnen, zur Gemeinschaft mit sich, und zwar schon vor aller Zeit.

Von Luther ist die Erwählung nicht so betont worden. Sachlogisch ist der Gedanke auch da, er wird aber durch den des Glaubens überlagert. Dass ich zur Gemeinschaft mit Gott bestimmt bin, erkenne ich daran, dass Gott mir vermittels des Heiligen Geistes den Glauben schenkt. Der Glaube steht bei Luther im Mittelpunkt, und so hat es die lutherische Kirche immer gehalten.

Was aber ist mit all den Menschen, die nicht glauben? Sind die nicht zur Gemeinschaft mit Gott bestimmt? Und können sie etwa was dafür, dass sie nicht glauben? Könnten sie das ändern? Doch eher nicht. Glaube ist Geschenk, nicht selbstgemacht, das würde ja auch Luther nicht bestreiten. Er beantwortet die Frage einfach nicht gescheit.

Barth ist da viel konsequenter: Ob ich an Gott glaube oder nicht, ob ich ein guter Mensch bin oder schlecht, ob mein Leben gelingt oder ob ich es verfehle, ob ich das Glück hatte, in ordentliche und liebevolle bürgerliche Verhältnisse mit solider Kirchlichkeit geboren zu sein, oder ob ich aus einem lieblosen, verwahrlosten Elternhaus komme, in dem es zudem noch an der elementarsten religiösen Bildung gefehlt hat – das ist für die Frage meiner Gottesnähe unerheblich. Meine gefühlte Nähe zu Gott ist unerheblich.

Gottes Nähe zu mir, das ist erheblich. Und Gott hat mich zur Gemeinschaft bestimmt. Er hat mich erwählt, mich bei meinem Namen gerufen, ich bin sein.

Und dass das so ist, sagt Barth, das ist nicht einfach nur eine dogmatische Behauptung. Sondern das ist die Quintessenz der biblischen Geschichte. Das Heil Gottes lässt sich nur als eine Geschichte erzählen. Als Geschichte des Juden Jesus von Nazareth.

In Jesus begegnet Gott dem Menschen. In Jesus Christus begibt sich Gott in die Gemeinschaft mit dem Menschen, in ihm bestimmt Gott den Menschen zur Gemeinschaft mit sich. „Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn“, das lässt sich nirgends sonst als hier erkennen und verstehen: Am Leben und Lehren, am Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi. Da ist es zu erkennen und zu verstehen: Gott will die Gemeinschaft mit uns, um jeden Preis, auch den Preis seines eigenen Leidens und Sterbens, auch um den Preis seiner eigenen völligen Unerkennbarkeit und völligen Ohnmacht.

Aus dieser Erkenntnis hat Barth auch erkenntnistheoretische Konsequenzen gezogen: wenn Gott der Urquell meines Glaubens ist, ist er auch der Ursprung meiner Gotteserkenntnis. Gott wird nur durch Gott erkannt. Gott muss einem die Augen öffnen, damit man ihn sehen und wahrnehmen kann.

Nicht nur, aber auch, weil Gott in dieser Welt eben nicht einfach zu erkennen ist. Er ist hier nicht auf eine Weise gegenwärtig, die sich einfach an der Welt ablesen ließe. Selbst da, wo die Bibel Gott als gegenwärtig beschreibt, braucht man Augen, die sehen können, müssen einem die Augen geöffnet werden.

Von Gott geöffnet werden. Dann, und nur dann, kann ich Kreuz und Auferstehung Jesu Christi erkennen, als das, was sie nach biblischem Zeugnis sind: Momente tiefster Gegenwärtigkeit Gottes.

Aber ob mir die Erkenntnis Jesu Christi geschenkt ist oder nicht – zur Gemeinschaft mit Gott bestimmt bin und bleibe ich allemal.

„Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. So wir nun leben oder sterben, so sind wir des Herrn.“

Liebe Gemeinde, das sind steile Sätze, ich sagte es schon. Wer von uns könnte sie mit dem Brustton tiefer Überzeugung in allen Lebenslagen laut und vernehmlich sprechen? Oder wenigstens in den meisten Lebenslagen? Oder wenigstens in manchen? Wer von uns würde diese Überzeugung tagtäglich spüren, oder wenigstens meistens, und vor allem auch gerade dann, wenn er vom Leben schwer gebeutelt wird?

Und schauen Sie sich außerhalb der christlichen Gemeinden um – da weiß schon gar niemand mehr, was damit gemeint sein soll.

Ich habe neulich ein Buch von Ildikó von Kürthy gelesen, das binnen zweier Wochen nach Erscheinen auf Platz 2 der Spiegel-Bestseller-Liste gelandet war und angepriesen wurde als Werk, in dem sich die Autorin mit dem Alter, Krankheit und Tod auseinandersetzt. Das tut sie in der Tat.

Die Protagonistin hat nach Auszug des letzten Kindes aus dem Familienheim eine Art Midlife-Krise mit Mann und Beruf, und ihre älteste Freundin  ist unheilbar krebskrank. Und die Protagonistin begleitet die Freundin durch ihre Krankheit hindurch bis in den Tod und findet eine tragfähige Lösung für ihr Leben. Das ist für eine Autorin, deren Heldinnen sich sonst vor allem Sorgen um Figur und Attraktivität machen, schon gar nicht schlecht. Und es ist auch ein in vielen Betrachtungen durchaus kluges, gut geschriebenes und unterhaltsames Buch.

Aber in diesem Buch werden die Krankheit der Freundin und ihr schließliches Sterben beschrieben, ohne dass auch nur ein einziges Mal die Frage nach Gott auftaucht, und sei es in Gestalt einer Argumentation: Wie kann er das zulassen? Wenn es ihn gibt, muss er doch helfen, oder es gibt ihn halt nicht. Nicht einmal für solch eine Anklage reicht das christlich-religiöse Restpotential dieser Menschen.

Gott ist für Ildikó von Kürthys Romanfiguren beim Erfassen vom Leben und Sterben offenbar so uninteressant, dass sie ihn nicht einmal mehr ignorieren. Ignorieren würde heißen: Ich ahne, dass da etwas ist, aber ich schaue extra nicht hin. Hier in diesem Buch ahnt niemand mehr, dass da noch ein Gott sein könnte, und muss folglich auch weder hin- noch wegschauen.

Und das gilt doch für unseres ganze Gesellschaft über weite Strecken: Gott ist den Menschen so ferngerückt, dass sie ihn nicht einmal mehr ignorieren. Das Leben, aber auch das Sterben lässt sich erfassen, ohne dass Gott überhaupt in den Horizont tritt. Er fehlt nicht einmal mehr.

Nun kann man darüber lamentieren, dass das so ist. Man kann sich zurückwünschen in vermeintlich gute alte Zeiten, als Kirche ein wichtiges Element im bürgerlichen Leben war.

Man kann den Verfall der Kirchlichkeit oder den Verlust der Glaubensbereitschaft bejammern. Man kann die Oberflächlichkeit unserer Spaß-Kultur geißeln. Man kann den Egozentrismus der religiösen Erwartungen und Vorstellungen moderner Menschen entlarven. Man kann beklagen, dass moderne Menschen nichts mehr zu glauben bereit sind als das, was sie an sich selbst erfahren und selbst spüren. Wäre alles nicht falsch.

Barth hat das -  im Gegensatz zu vielen seiner theologischen Zeitgenossen – nie getan. Nicht, dass er all diese Phänomene gut geheißen hätte. Aber er hatte einen anderen Ansatz, auf diese Phänomene zu reagieren. Barth hat, würde ich sagen, tiefer gedacht, feiner verstanden, um was es da geht. 

Zu einer Zeit, als seine theologischen Zeitgenossen noch immer versuchten, eine vermeintlich gute alte Zeit wieder aufleben zu lassen, eine Art Re-Christianisierung durch Veränderung der Methoden der Verkündigung zu erreichen, da hat Barth einfach konsequent theo-logisch gedacht. Wenn Gott Gott ist, dann muss ihm keiner den Weg bereiten, und dann muss auch niemand fürchten, dass Gott ohne unser Reden von ihm aus der Welt fällt. Wenn Gott Gott ist, wird er sein Reich auf Erden durchsetzen, auch ohne unser Mittun. Und wenn er nicht Gott wäre, wäre es ohnehin vergebene Liebesmüh.

Gott kann für sich selber sorgen.  Er wird sich selber durchsetzen – wenn und wann es ihm gefällt.

Das entlastet so ungeheuer. Gerade uns, die wir in unseren besseren Stunden vielleicht doch mit der Erkenntnis Gottes und der Gewissheit seines Heilswillens beschenkt werden.

Gott sorgt für sich selber und schenkt uns, was wir brauchen.

Wir müssen nicht das Reich Gottes hier verwirklichen, wir müssen nicht die Welt retten, wir müssen die Ruder nicht herumreißen.

Wir müssen nicht einmal den Rest der Welt von der Existenz und Glaubwürdigkeit unseres Gottes überzeugen.

Wir müssen uns nicht einmal Sorgen machen um die Zukunft der Kirche. Gott wird sie erhalten, oder es ist sowieso nicht seine Kirche gewesen.

Wir können ganz gelassen und fröhlich unsere Straße gehen, dankbar für die Fragmente an Gotteserkenntnis und Momente der Gotteserfahrung, die uns geschenkt sind. Wir können in guten Stunden vielleicht davon reden und Zeugnis geben, was wir erkannt und erfahren haben. Aber ohne jeden Beweiswert, als persönliches Zeugnis von Gottes unglaublichem Handeln.

Machen wir uns nichts vor: Das ist schwer genug in einer Welt, die Gott nicht einmal mehr ignoriert. Es ist schwer genug gegen unseren eigenen Zweifel und gegen unsere eigene Trägheit und Verzagtheit.

Und vielleicht ist das aber genau unsere Aufgabe heute: Nicht zu verzweifeln, nicht träge und nicht verzagt zu werden angesichts der Gottesignoranz um uns herum und der Gottesferne in uns drin, sondern uns daran zu erinnern: Gott ist Gott. Gott tut. Gott hat getan. Gott wird tun.

Am Abend seines Todes am 10. Dezember 1968 hat Karl Barth noch mit seinem alten Freund Thurneysen telefoniert. Man sprach, so hat Thurneysen es später berichtet, über die brisante Weltlage. „Ja“, sagte Barth, „es ist schrecklich. Aber: nur nicht verzagen. Denn: Es wird regiert! Gott sitzt im Regimente!“

„Unser keiner lebt sich selbst und keiner stirbt sich selbst. Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. So wir nun leben oder sterben, so sind wir des Herrn.“

Amen

27.10.2019: 19. Sonntag nach Trinitatis - Predigt zu Joh 5, 1-16 von Lektorin Dr. Astrid Zinnecker-Rönchen

1. Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem.

2. Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen;

3. in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte.

5. Es war aber dort ein Mensch, der war seit achtunddreißig Jahren krank.

6. Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden?

7. Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein.

8. Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher!

9. Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging umher.

Es war aber Sabbat an diesem Tag.

10. Da sprachen die Juden zu dem, der geheilt worden war: Heute ist Sabbat, es ist dir nicht erlaubt, dein Bett zu tragen.

11. Er aber antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh umher!

12. Sie fragten ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh umher?

13. Der aber geheilt worden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war fortgegangen, da so viel Volk an dem Ort war.

14. Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre.

15. Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe.

16. Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte.

Liebe Gemeinde,

wenn man vom Westbahnhof stadteinwärts auf die Mariahilfer Straße kommt, dann sieht man sie fast immer da auf der linken Seite auf dem Asphalt hocken, sommers wie winters, die fremdländisch aussehende Frau mittleren Alters. Und immer mit entblößten nackten Beinen ohne Schuhe und Strümpfe, auch sommers wie winters, und sie streckt ihr irgendwie verkrüppeltes linkes Bein nach vorne, so dass man aufpassen muss, dass man nicht draufsteigt.

Beim ersten Mal dachte ich noch: „Die arme Frau!“. Beim zweiten, dritten, vierten Mal dachte ich: „Was für ein elendes Leben!“. Inzwischen denke ich darüber nach, wie sie wohl dahinkommt? Ob sie wohl von Landsleuten morgens hingebracht und abends wieder eingesammelt wird? Und ob die ihr das erbettelte Geld ganz abnehmen? Vielleicht gegen Kost und Logis in irgendeinem verratzten Matratzenlager? Oder ob sie nur einen bestimmten Prozentsatz abgeben muss? Und mit dem Rest ihre kranke Mutter in Rumänien unterstützt oder auf ein eigenes kleines Haus spart?

„Willst du gesund werden?“ – was würde diese Frau auf diese Frage sagen? „Aber ja, unbedingt, sofort, bitte heile mich?“ Oder träte nach dem ersten Impuls dann doch ein ganz anderer Gedanke in den Vordergrund? Z.B.: „Wovon soll ich dann leben, ich kann ja nicht mal lesen und schreiben?“ Oder: „Es ist doch längst zu spät für ein normales Leben mit Mann und Kindern, ich habe keinen Platz in unserer Gesellschaft, ich habe keinen Beruf, ich habe kein soziales Umfeld außerhalb dieser Elendsgesellschaft rumänischer Bettler, ich wäre ganz allein auf mich gestellt. Was sollte ich mit mir anfangen, so allein?“

Wagen wir einmal eine steile These: Gesundheit ist offenbar nicht alles im Leben. Und sie ist nicht das Wichtigste im Leben. Und sie ist schon gar nicht einfach gleichzusetzen mit dem Heil, das Jesus bringen soll.

Liebe Gemeinde, manche von Ihnen wissen, dass ich meinen Lebensunterhalt damit verdiene, Menschen mit schweren Behinderungen als Persönliche Assistentin zur Seite zu stehen. Ich helfe ihnen aus dem Bett und auf’s Klo, beim Anziehen und beim Essen, begleite sie in den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit oder fahre sie in ihrem eigenen Auto dorthin, putze, wasche, koche, was halt so anfällt. Das ist kein schlechter Job, und er ist ganz passabel bezahlt in Österreich. Ich kann diese Arbeit weiterempfehlen.

Aber natürlich hat man da auf so eine Geschichte wie die vom Kranken am Teich Betesda einen etwas anderen Blick. Wenn Sie so wollen: Ich blicke mitleidloser und daher ein bisschen nüchterner auf diesen Mann, der da seit 38 Jahren am Teich Betesda liegt. Dieser Mann, sagt die Bibel, wartet ein Leben lang schon nur darauf, dass sich das Wasser im Teich von selbst bewegt, denn die Legende besagt, dass dann ein Engel darin bade und dadurch das Wasser heilkräftig würde.

Ich aber denke: Was soll das heißen, wenn er sagt: „Herr, ich habe keinen Menschen, der mich zum Teich bringt…“? - Manche machen daraus: Da lag dieser arme Mann, 38 Jahre bewegungsunfähig, völlig allein und auf sich gestellt.

Liebe Gemeinde, ich sage Ihnen aus meiner Erfahrung: Das kann nicht so gewesen sein. Der Mann muss zu trinken und zu essen bekommen haben, er muss aufs Klo gekommen sein, er muss mit Kleidung versorgt worden sein. Er wird Krankheiten überstanden haben, also auch dabei umsorgt worden sein. Und er lag da gemeinsam mit vielen anderen, denen es genauso ging. In einer Art Leidensgemeinschaft.

War das ein so schlechtes Leben in einer Zeit, in der etliche Menschen von der Hand in den Mund gelebt haben? In der viele Menschen nicht wussten, wovon sie am nächsten Tag leben sollten? In baufälligen Hütten lebten? Ich bin da nicht so sicher. 38 Jahre so ein Leben, da muss man zäh sein und viel Lebenskraft haben, das schon. Aber das hatte er ja offenbar auch.

Aber natürlich ist auch dieser Mann auf eines fixiert, auf seine Heilung. Deshalb liegt er ja an diesem Ort. Vielleicht haben seine Verwandten ihn dahin abgeschoben, weil sie ihn hier versorgt wussten. Vielleicht hat er selbst dahin gewollt, weil er hier seine einzige, winzige Perspektive auf Veränderung seiner Situation sah: Baden im Teich in dem kurzen Moment, wenn das Wasser Heilkraft hat.

Deshalb antwortet er auf Jesu Frage: „Willst du gesund werden?“ nicht mit „Ja, natürlich“, sondern mit der Begründung, warum es einfach nicht klappen kann mit der Gesundung: „Herr, ich habe keinen Menschen, der mich schnell genug zum Wasser trägt.“ Dieser Mann hat die Möglichkeiten seines Lebens schon alle ausgelotet, und die Antwort ist negativ. Es gibt keine Möglichkeit zur Veränderung. Die Umstände lassen es nicht zu. Punkt. Pech gehabt.

Vielleicht ist das seine eigentliche Behinderung: Dass er die Chancen seines Lebens nicht sieht. Dass er fixiert ist auf einen einzigen, unrealistischen Wunsch, und ihm alles andere dagegen wertlos erscheint. All die Versorgung und Fürsorge von anderen, all die eigene Leistung, 38 Jahre unter diesen Umständen überlebt zu haben – all das nimmt er nicht mehr wahr. All das eröffnet ihm deshalb auch keine Perspektive auf ein erträgliches Leben.

Aber Jesus ist das wurscht. Er vergeht nicht vor Mitleid mit diesem armen Mann, und er diskutiert auch nicht Perspektiven mit ihm. Kein Coaching-Geschwätz, keine Selbstoptimierungs-Ratschläge. Kein: „Was willst du wirklich?“ und kein: „Du musst nur wirklich wollen“. Jesus sagt: „Steh auf, nimm dein Bett und geh umher“. Einfach so sagt er es und heilt diesen Mann aus der uneinholbaren, unnachahmlichen Fülle seiner göttlich-messianischen Macht.

Das, liebe Gemeinde, ist das eigentlich Ärgerliche an dieser Geschichte. Damals war es der Ärger der frommen jüdischen Mitbürger über den Bruch des Sabbatgebots. Heute ist es der Ärger um die Uneinholbarkeit, die Unnachahmlichkeit dieses Geschehens.

Ich muss gestehen, auch ich habe mich über diese Geschichte immer ein bisschen geärgert. Ich fand es ungerecht. So ungerecht es war, dass der Mann immer zu spät zum Teich kam, um geheilt zu werden, so ungerecht war es doch auch, dass Jesus nun ausgerechnet ihn und niemanden sonst geheilt hat. Dieser eine mochte geheilt und beglückt aus dieser Geschichte herausgekommen sein, aber alle anderen blieben doch liegen am Teich Betesda. Das war doch auch kein sinnvolles Konzept zur Versorgung von Kranken und Behinderten.

Und womit hatte dieser eine das verdient? Nicht jedenfalls durch seinen frommen Glauben. Der Mann wusste ja nicht einmal, mit wem er sprach. Sein Glaube hat Jesus auch nicht interessiert. Nicht einmal, ob er wirklich geheilt werden wollte. Und auch nicht, was dieser Mann mit dieser dramatischen Umstürzung seines Lebens anfängt. Erst ganz am Ende, bei der zweiten Begegnung, gibt Jesus ihm doch noch einen guten Rat mit auf den Weg: „Sündige nicht mehr, damit dir nichts Schlimmes widerfährt“. „Bleib anständig“, so könnte man sagen.

Eigentlich hat man den Eindruck, dass dieser Mensch als Mensch Jesus gar nicht besonders interessiert hat. Dieser Mann dient als Demonstrationsobjekt.
Diese Geschichte demonstriert, dass Jesus sich als endzeitlicher Bevollmächtigter Gottes versteht. Dass er deshalb das Recht hat, religiöse Regeln zu brechen oder umzuschreiben: Der Sabbat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Sabbat willen.
Und die Geschichte zeigt, dass mit Jesus selbst das Gegenwart wird, was für das Ende der Zeit, wenn wir alle in Gottes Reich leben, für uns alle Wirklichkeit werden wird: Heil und Heilung.

Und das ist vielleicht das größte Ärgernis von allen: Diese Geschichte erwartet von uns, dass wir erstens wirklich damit rechnen, dass Gott das Leben eines Menschen komplett umstürzen kann und wird. Dass er unser aller Leben komplett umstürzen wird. Und dass wir zweitens wissen, dass wir das nicht selbst herbeiführen können.
Es wird kommen der Tag, sagt die Bibel, an dem diese Welt und jeder Mensch in ihr heil werden wird. An dem das Unheil ein Ende haben wird. An dem Recht und Gerechtigkeit blühen werden und die Barmherzigkeit Gottes für alle erkennbar und fühlbar sein wird. Dieses ‚Steh auf, nimm dein Bett und geh umher‘, das ist nur ein kleiner Vorbote des Heils, das uns allen blühen wird.

Klingt fremd? Klingt komisch? Klingt irreal? Jawohl, tut es. Klingt so komisch und irreal wie die Heilung eines Menschen von jetzt auf gleich, der 38 Jahre seine Muskeln nicht benutzt hat und dann einfach aufsteht und geht. Aber das ist die biblische Botschaft. Sie passt nicht in unsere westliche Welt. Sie stört und irritiert uns. Und wir wissen oft nicht, wie wir sie mit unserem Leben zusammenbringen sollen. Ich weiß es auch oft nicht.

Aber es ist doch auch eine grandiose Botschaft. Eine, die die Phantasie in  Gang setzt und die Kräfte mobilisiert und aus der Lähmung holen kann. Ein Stachel im Fleisch, wenn wir uns mal wieder mit den Verhältnissen arrangieren wollen und einfach hängenbleiben in dem Elend, das uns Tag für Tag umgibt und begegnet.

Liebe Gemeinde, alles was wir können, das ist Kleinklein im Verhältnis zum Heil Gottes, das uns die Bibel verspricht. Aber es ist nicht nichts.

Wir können uns ermutigen lassen. Wir können uns aufraffen und unser Bett nehmen und gehen. Wir können andere zum Gehen zu motivieren versuchen. Und ihnen notfalls das Bett hinterhertragen. Wir können Rollstühle und Orthesen konstruieren. Und hier ganz konkret in der Auferstehungsgemeinde unsere Gemeinde endlich zugänglich machen für Behinderte, barrierefrei bis ins Klo hinein.

Und wir scheinbar Gesunde können aufhören, Menschen mit Behinderung als Objekte unseres Mitleids zu betrachten, die sich doch wohl nichts sehnlicher wünschen müssten, als ‚gesund‘ zu werden. Sie haben unser Mitleid nicht verdient.
Kein Mensch hat das Mitleid eines anderen verdient. Mitleid macht klein, es kommt von oben herab und sagt: ‚Ach du Armer, komm, ich lass mich zu dir herab und helfe dir aus meiner großen Güte‘.
Mitleid kann nicht würdigen, was dieser andere an Kraft, an innerer Stärke und Fähigkeit mitbringt. Mitleid ist die Idee, aus der eigenen vermeintlichen Helligkeit Licht in das vermeintlich Dunkle eines anderen Menschen bringen zu können.
Viel besser wäre, das scheinbar Dunkel eines anderen Menschen als einen interessanten fremden Raum zu verstehen, in dem man interessante neue Dinge erfahren kann, auch über die dunklen Flecken im eigenen Raum…

Und am Ende können wir sogar aufhören, die Welt einzuteilen in ‚wir‘ und ‚die‘, in ‚wir Gesunde‘ und ‚die Behinderten‘.

Denn was heißt am Ende, ‚gesund sein‘? Der große Theologe Karl Barth hat den goldenen Satz formuliert: „Gesundheit ist Kraft zum Menschsein“ (KD III/4, 408).

Kraft zum Menschsein, das finde ich eine hervorragende Bestimmung für Gesundheit: Menschsein in allen seinen Facetten sein und leben dürfen. Kraft zum Menschsein, das ist die Fähigkeit, in Beziehung zueinander zu treten, miteinander zu sein, sich umeinander zu kümmern. Kraft zum Menschsein, das ist ein anderes und besseres Maß für Gesundheit als Blutdruckwerte, Tumormarker und körperliche Beweglichkeit.
Kraft zum Menschsein, das brauchen wir alle, und das fehlt uns allen immer wieder. Dass wir Kraft zum Menschsein brauchen, das verbindet uns alle miteinander, scheinbar Gesunde und scheinbar Behinderte. Dass wir alle mit dieser Kraft zum Menschsein gesegnet werden, das gebe Gott uns heute hier und alle Tage.

Amen

20.10.2019: U3 Abendgottesdienst - Predigt zu Mk 7, 24-30 mit den Lektorinnen Dipl.-Ing. Dr. Bente Knoll und Dr. Katja Eichler

KE: Liebe Gemeinde, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

Dass wir heute hier so beieinander sind, dass sich heute Menschen aus anderen evangelischen Wiener Gemeinden zu uns auf den Weg gemacht haben, das ist nicht einfach so passiert. Das war ein längerer Prozess, an dem mehrere Menschen beteiligt waren.

Die Idee dazu kam auf bei einer der Wiener KuratorInnentagung, vielleicht weil Laien, also ehrenamtliche MitarbeiterInnen in unserer Kirche weniger Berührungsängste haben und nicht so ängstlich auf die Gemeindezahlen, die Konfirmandinnen und Konfirmanden sowie die Gemeindegebiete schauen. Es wurde überlegt, geplant, diskutiert und schließlich auch gemacht – Termine bestimmt und Folder gedruckt. Ganz euphorisch waren wir nachdem klar war, dass dieses Projekt gelingen würde. Und es kam zu weiteren Treffen, mit mehr oder weniger Beteiligung aus den Gemeinden und mit Ideen, die ganz anders, also z.B. mit anderen Gemeinden – nicht nur an der U3 oder leider auch gar nicht umgesetzt wurden – nicht für alles gibt es Zeit und ein gemeinsames Interesse. Miteinander zu reden und zu planen, dazu gehört Aufmerksamkeit und Zuhören, sich auch mal von den anderen etwas sagen lassen.

Dazu haben wir einen Bibeltext gesucht, der dieses aufeinander hören aufgreift und der uns zeigt, dass es nie zu spät ist, einen anderen Weg, als den vertrauten, einzuschlagen.

BK: Ich lese aus dem Markusevangelium aus dem 7. Kapitel die Verse 24 bis 30 in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache

24 Jesus stand auf und wanderte weiter in das Gebiet der Hafenstadt Tyrus. Dort ging er in ein Haus hinein und wollte, dass niemand davon erfahre. Doch er konnte nicht unbemerkt bleiben, 25 sondern sofort hörte eine Frau von ihm, deren kleine Tochter einen unreinen Geist in sich trug. Die Mutter kam und warf sich vor Jesu Füßen nieder. 26 Die Frau war eine Griechin, sie stammte aus Syrophönizien. Sie fragte ihn, ob er ihre Tochter vom Dämon befreie. 27 Da sagte er zu ihr: »Lass erst die Kinder gesättigt werden, denn es ist nicht gut, das Brot der Kinder zu nehmen und es den kleinen Hunden hinzuwerfen.« 28 Aber sie antwortete und sagte unerschrocken zu ihm: »Lehrer, auch die kleinen Hunde unter dem Tisch essen von den Brotkrümeln der Kinder.« 29 Da sprach er zu ihr: »Wegen dieser Antwort geh hin! Der Dämon hat deine Tochter freigegeben!« 30 Und sie ging weg in ihr Haus und fand das Mädchen, wie es auf dem Bett lag, befreit vom Dämon.

– Gott segne das Reden und das Hören. Amen.

KE: In unserem Bibeltext hören wir von Orten, die uns nicht so vertraut sind, die es nicht mehr gibt, Bezeichnungen, die wir nicht mehr kennen. Die „Syrophönizier“, so wurde die Bevölkerung der bedeutenden Handelsstädte Tyrus und Sidon und ihres Hinterlands genannt. Zu Israel bestanden Handelsbeziehungen und vor allem in der Zeit des Alten Testaments eine gute Nachbarschaft. Die namenlose Frau aus der Umgebung der Hafenstadt Tyros wird als Griechin vorgestellt. Sie ist also von der hellenistischen Kultur des römischen Weltreiches geprägt, gegen die sich immer mehr Juden abzuschotten versuchten. Diese Frau ist offenbar wohlhabend und gebildet. Sie ist keine Jüdin und gehört damit nicht dem Volk Jesu an. Im nord-westlichen Küstenstreifen Galiläas ist sie zuhause.

Dort lebten zu Jesu Zeiten viele Nichtjuden und Nichtjüdinnen. Allerdings kam es vor, vor allem in manchen Dörfern, dass sich jüdische Menschen dort ansiedelten. Die Stimmung zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Menschen war in dieser Gegend zu der Zeit eher gespannt. Die einheimische Bevölkerung geht auf die Phönizier zurück, die einst das Mittelmeer mit ihren Schiffen beherrschten und in Nordafrika einflussreiche Kolonien gründeten. Zum Unterschied von diesen afrikanischen Phöniziern bekamen die Leute am Ostufer des Mittelmeeres im Einflussbereich Syriens den Namen „Syrophönizier“. Sie hatten sich kulturell und wirtschaftlich auf die neuen Machtverhältnisse eingestellt. Sie waren erfolgreiche Kaufleute, während die jüdische Bevölkerung größtenteils arm geblieben war. Diese Geschäftsleute sprachen griechisch, konnten sich aber auch aramäisch verständigen.

Auf seinen Wanderungen besucht Jesus hier vermutlich eine jüdische Familie und möchte dabei völlig unerkannt bleiben. Vielleicht sucht er etwas Abstand, etwas Ruhe durch diese Reise. Vielleicht brauchte er etwas Frieden von den Auseinandersetzungen mit den Pharisäern, ein wenig Zeit für sich, Zeit zum Innehalten und neue Kraft schöpfen.

Eine Frau aus diesem Volk hört von Jesus und sie macht sich auf die Suche nach ihm, um ihm ihre größte Sorge zu schildern. Sie hofft auf die Rettung durch Jesus, sie hofft, dass der Fremde, von dem sie schon so viel gehört hat, denn sonst hätte sie sich nicht auf den Weg gemacht, ihr helfen wird. Dass er etwas tun kann, bei dem alle anderen versagt haben, denn sie wird sicher schon vorher alles in ihrer Macht stehende getan haben, um ihrer Tochter zu helfen. ---

BK: Die Frau bemerkt ihn, sie fordert ihn auf, etwas zu tun – er weist sie ab –  sie ist unerschrocken – sie schaut über den Tellerrand – die Tischkante hinweg, hinunter unter den Tisch: Sie sieht die, die nicht wahrgenommen werden und stellt fest, dass alle sind miteinander verbunden, alle essen vom Brot – auch die die, die nicht gesehen werden, die ausgegrenzt werden, essen die Brotkrümmel der Kinder.

Jesus lässt sich von dieser syrophönizischen Frau überzeugen – er reagiert auf sie, lässt sich intellektuell ein. Provozierend gesagt: Die Geschichte zeigt uns Jesus als Lernenden. Schauen wir uns noch einmal den Bibeltext unter der Perspektive der Handlungen und des Tuns der syrophönizischen Frau an.

  • Sie hört von Jesus: aha sie ist schon im Vorfeld aufmerksam und informiert was in ihrer Umgebung vor sich geht
  • Sie kam zu Jesus und warf sich vor ihm nieder: aha sie geht aktiv zu Jesus hin und wirft sich vor ihm auf den Boden
  • Sie frage Jesus, ob er ihre Tochter vom Dämon befreie: eine Frage – ohne ein „kannst du bitte“ – sie ist sicher, dass Jesus die Macht hat von Dämonen zu befreien
  • Sie antwortet und sagt unerschrocken ihren Satz – eigentlich – korrigiert sie Jesus, zeigt Jesus eine neue Perspektive auf, sie zeigt, wen es alles auf der Welt gibt, und wer vom Brot oder den Brotkrümel isst, die, die uns auf den ersten Blick einfallen: die Kinder; aber auch die unter dem Tisch, aus dem Blickfeld sind: die Hunde
  • Sie geht wieder in ihr Haus und trägt vermutlich die Frohe Botschaft von Jesus in ihre syrophönizische Welt

 

Liebe Gemeinde, lasst mich die diese Handlungen der syrophönizischen Frau nochmals zusammenfassen: Was tut sie?

  • Von Jesus hören
  • Zu Jesus hingehen
  • Jesus bitten
  • Unerschrocken bei der eigenen Bitte bleiben (in Fall des Bibeltextes: Tochter vom Dämon befreien) und GLEICHZEITIG (im Dialog mit Jesus) den gesamthaften Blick auf die Welt und auf das nicht so offensichtlich sichtbare (im Fall des Bibeltextes: die Hunde unter dem Tisch)
  • Nach Hause gehen und von Jesus verkündigen

 

KE: Hier treffen sie nun aufeinander, der erschöpfte Jesus und die verzweifelte Frau, die sich vor ihm auf die Knie wirft. Ein Ringen um das Richtige entsteht. Ein Dialog, der uns heute noch beschäftigt. Zuerst weist Jesus sie ab, seine Botschaft, seine Wunder, sein Heil sind nur für die Kinder Israels bestimmt. Schroff klingt die Zurückweisung in unseren Ohren. Ein Heiland, der sich nicht allen vorurteilsfrei zuwendet? Das kann doch gar nicht sein!

Ausleger des Bibeltextes versuchen hier zu beschwichtigen, Jesus sagt nicht „Hunde“, sondern „Hündchen“ und das sind dann keine Straßenköter sondern Haustieren, die doch, wie wir wissen, wenn unsere Bekannte Hunde besitzen, eine ganz besondere Bedeutung haben. Oder es wird gesagt, dass die Antwort, die Jesus der Frau erteilt, gar nicht ihr gilt, sondern den anwesenden Jüngern (von denen der Bibeltext nicht erzählt), damit diese das universale Handeln Jesu damit erst so richtig zu schätzen wissen. Alles wird versucht, um hier Jesus in Schutz zu nehmen. Und ich frage mich, warum trauen diese Ausleger Gott so wenig zu.

Schauen wir uns noch einmal das Handeln Jesu genauer an. Der Bibeltext erzählt von der Wanderung Jesu in das Gebiet der Hafenstadt Tyrus. Dort geht er in ein jüdisches Haus. Er will nicht, dass jemand davon erfährt. Aber, wie das bei berühmten Personen so ist, verbreitet sich seine Anwesenheit wie ein Lauffeuer. Als die Frau sich ihm vor die Füße wirft und zu ihm spricht, muss er reagieren, auch wenn er sich zurückziehen wollte.

In seiner ersten Antwort weist er sie ab. Er unterscheidet zwischen den Kindern Israels und den nichtjüdischen Menschen – es ist ein Entweder-oder.

Entweder das Brot, das Heil, für die Kinder Israels oder das Brot, das Heil für die kleinen Hunde, also die nichtjüdischen Menschen. Für die Frau aber ist es aber ein sowohl als auch. Die Kinder essen von dem Brot und geben entweder den Hunden gleich etwas ab oder lassen Brotkrummen fallen, die die Hunde sich nehmen.

Ihre Antwort führt dazu, dass Jesus seine erste Antwort verändert. Das Heil für alle wird in den Mittelpunkt gestellt. Jesus überdenkt seine Worte. Er erweitert seine vorherige Sichtweise. Jesus war ein Mensch, ein Mensch, wie du und ich, er hat damit auch die Fähigkeit zu lernen, über Grenzen und über das Bekannte und Vertraute hinweg zu sehen. Die Beharrlichkeit und der unerschütterliche Glaube der Frau stimmen Jesus um. Er lernt von ihr, er erweitert seinen Horizont.

Wenn Jesus seinen Horizont erweitert, wenn er lernt, wenn er seine Heilsbotschaft allen zuspricht, wie es ja nach seiner Auferstehung geschehen ist, das haben wir im Lesungstext gehört: „Darum gehet hin und lehret alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe.“

Wenn Jesus lernen kann, dann besteht doch auf Hoffnung für uns – die Hoffnung, dass auch wir immer weiter lernen und unseren Horizont erweitern und unsere Grenzen sprengen können.

BK: Die Bibelstelle gibt uns klar den Auftrag: Jesus um Heilung zu bitten und GLEICHZEITIG über unseren eigenen Tellerrand, über die eigene Tischkante zu schauen. Wahrzunehmen, für alle Menschen gibt es das Heil. Auch für die, die wir nicht sehen oder sehen wollen aus unserer privilegierten Position heraus. Für uns und für sie schenkt Gott das Brot, unser Heil.

Was kann das für uns heute hier für die U3 Gemeinden bedeuten? Ihr habt euch heute aus verschiedenen Wiener Gemeinden zu uns in die Auferstehungskirche auf den Weg gemacht. Damit habt ihr Grenzen überschritten und rückt die Gemeinschaft in den Mittelpunkt.

Der Bibeltext fordert uns auf größer zu denken. Das zu sehen, was sich unter dem Tisch regt und unsere Brotkrümeln verspeist. Und auch das wahrnehmen, was sich nicht in unserem Blickfeld befindet.  Wir sind aufgefordert, das Große und das Ganze zu sehen, nicht im eigenen Kleinen zu bleiben.

Jetzt ist es wichtig, nicht nur auf und unter den Tisch zu schauen, sondern den Blick nach vorn, nach hinten, rechts und links, in alle Richtungen zu lenken. Welche Visionen der Zusammenarbeit kann es noch geben? Welche Gemeinsamkeiten finden wir, die uns noch gar nicht bewusst sind? Wo und wie können wir wirklich Gemeinschaft leben?    

Um all diese Fragen zu beantworten, braucht es auch den Mut und Gottvertrauen, um letztendlich Grenzen zu überwinden und gemeinsam am Reich Gottes zu bauen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

21.07.2019: Predigt zu 1. Kor 1,18-25 von Lektorin Dr. Astrid Zinnecker-Rönchen

„Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden, uns aber, die wir selig werden, ist’s eine Gotteskraft. Denn es steht geschrieben: „Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.“

Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weisen dieser Welt? Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht? Denn weil die Welt, umgeben von der Weisheit Gottes, Gott durch ihre Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predigt selig zu machen, die daran glauben. Denn die Juden fordern Zeichen und die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn die Torheit Gottes ist weiser, als die Menschen sind, und die Schwachheit Gottes ist stärker, als die Menschen sind.“ (Übertragung von Christian Lehnert)

Liebe Gemeinde!

Die Geschichte des sogenannten christlichen Abendlandes beginnt mit einem Kreuz, genauer gesagt, mit einer Kreuzeserscheinung. Die Legende besagt, dass dem Kaiser Konstantin kurz vor der Schlacht gegen seinen Hauptrivalen Maxentius 312 n.Chr. eine himmlische Erscheinung zuteilwurde. Die Wolken öffneten sich, ein Kreuz aus Licht erschien mit den Worten ‚en touto nika‘, zu Deutsch: ‚In diesem (Zeichen) siege‘. Konstantin zog im Namen des christlichen Gottes in den Krieg und gewann die Schlacht und wurde Kaiser des ganzen Weströmischen Reiches, und die Zeit der Christenverfolgung durch die römischen Kaiser hatte ein Ende. Um 400 n.Chr. dann wurde unter Konstantins Sohn das Christentum Staatsreligion.

Seither ist das Kreuz ein kulturelles Symbol des christlichen Abendlandes. Seither hängt es in Amtstuben und prangt auf den Gürtelschnallen von Soldaten, die mit gesegneten Waffen in den Krieg zogen. Seither hängt man es sich um den Hals und sonstwo hin. Neulich sah ich ein silbernes Armband, daran allerlei glücksverheißende Anhänger angebracht waren: Ein Kleeblatt, ein Schornsteinfeger, ein kleines Schweinchen, ein Herz und, natürlich, ein Kreuz.

Das Kreuz als politischer Erfolgsgarant oder persönlicher Glücksbringer – das ist natürlich nichts als ein gigantisches Missverständnis. Ein uraltes und offenbar nicht auszurottendes Missverständnis, aber trotzdem ein Missverständnis. Erfolg und Glück, das ist gerade nicht die Botschaft, die das Kreuz verkörpert. Die Bibel erzählt eine ganz andere Geschichte vom Kreuz.

Liebe Gemeinde, für das Neue Testament ist das Kreuz ein zentraler Bestandteil Erzählung von Gottes Geschichte mit den Menschen. Gott kommt in der Gestalt des Jesus von Nazareth zu Menschen, unter die Menschen, in diesen Menschen, und diese Gestalt, dieser Jesus endet am Kreuz. Das ist für die Verfasser des Neuen Testamentes zentral.

So zentral, dass sie an Jesus an sich und abgesehen von seinem Leiden und Sterben nicht das mindeste Interesse haben. Nie hätten sie uns von Jesus irgendetwas erzählt und überliefert, wenn er nicht so gestorben wäre. Alles das, was wir heutzutage so toll an Jesus finden - Jesus als menschliches Vorbild, Jesus als der Menschenfreund, Jesus, der weise Lehrer, Jesus der Sozialrevolutionär, Jesus, der Religionserneuerer -,  alles das interessiert die Verfasser des Neuen Testaments in Wirklichkeit gar nicht.

Die Evangelisten erzählen natürlich von Jesu Geschichte, von seinen Worten und Taten, aber sie tun das vor allem, um zu erklären, wie es zur Kreuzigung gekommen ist. Und um zu erklären, wer das ist, der da gekreuzigt wurde. Passionsgeschichte mit langer Einleitung, so hat einmal jemand (Martin Kähler) das Markus-Evangelium genannt. Für die Evangelien steht das Kreuz im Mittelpunkt, das ist der Fluchtpunkt, auf den alle Erzählungen zulaufen, und ohne den alle Erzählungen ihres bedeutsamen Kerns beraubt sind.

Aber natürlich ist es nicht gleichgültig, was Jesus in seinem Leben zuvor gesagt und getan hat, so dass man ihn schließlich ans Kreuz schlagen zu müssen meinte. Kurz zusammengefasst erzählen die Evangelien von einem Menschen, der die hergebrachte Ordnung störte, der die Menschen vorbereiten wollte darauf, dass Gott bald in ihre Welt eintreten werde und sie eigentlich schon jetzt zu verändern begonnen hätte. Die saubere Trennung der Welten in religiös und profan funktioniert dann nicht mehr. Dann muss man mit Gott rechnen in allen Dimensionen seines Lebens, mit Gottes Liebe  und mit seiner Gerechtigkeit.

Wenn Jesus heute unter uns Gottes Willen und Gottes Liebe verkündigen würde, wie er es damals getan hat, dann würde er sicher fragen, was wir mit der Welt eigentlich machen, mit Gottes guter Schöpfung, die uns gerade unter dem Hintern wegbricht, weil wir alle nicht lassen wollen vom Konsum, vom immer mehr, immer weiter, immer schneller.

Und er würde fragen, was wir eigentlich machen, wenn wir Unsummen in Kriegswaffen stecken, aber kaum Geld erübrigen können für die gerechtere Verteilung von Geld und Lebenschancen auf der Welt. Und er würde uns fragen, wie wir guten Gewissens in einer Wirtschaftswelt mitmachen können, die auf die Ausbeutung der Natur und der Menschen in den armen Ländern und der armen Menschen in den reichen Ländern basiert.

Er würde uns fragen, wie wir mit den Menschen umgehen, mit den nahen und der fernen Nächsten. Und er würde sich ganz sicher den ärmsten in dieser Gesellschaft zuwenden, den Pennern, den Drogenjunkies, den Nutten, den rumänischen Krüppeln, die bettelnd auf der Mahü sitzen.

Und er würde uns allen sagen, dass es nichts Wichtigeres gäbe, als sich von ganzem Herzen und mit ganzer Kraft Gott zuzuwenden. Er würde uns sagen, dass Gott komme, um diese Welt zu erneuern, und dass wir zusehen müssen, dass wir in dieser Bewegung Gottes mitgingen, selbst wenn das bedeuten würde, auf unser bisheriges Leben und seine Bequemlichkeit und Sicherheit zu verzichten.

Wie dicht sind wir da dabei? Würden wir das aushalten? Würden wir diesen Jesus Christus und seine Botschaft mit offenen Armen empfangen? Oder würde er uns stören? Oder gar verstören? Hätten wir ihn am Ende auch gern wieder weg? Vielleicht hätten wir Jesus auch ans Kreuz geschlagen, wenn das heutzutage noch üblich wäre. Wahrscheinlicher ist, dass wir auf Facebook und Twitter als Spinner diffamieren und dafür sorgen würden, dass er in die Psychiatrie eingewiesen würde. Bekloppt genug ist das ja, was er uns zu sagen hätte.

Liebe Gemeinde, Paulus hat an keiner Stelle in seinen Briefen irgendetwas über das irdische Leben und Wirken Jesu erzählt. Hier und da verweist er auf ein Herrenwort, also etwas, das Jesus zu Lebzeiten gelehrt hat. (1.Kor 7, 10; 1.Kor 11). Aber sonst zeigt Paulus kein Interesse am Leben Jesu, dabei war er zeitlich viel näher dran als die Verfasser der Evangelien. Vielleicht war das ja auch der Grund: Paulus war zeitlich so nahe dran an Jesus, dass er von dessen Leben nicht viel erzählen musste in seinen Briefen.

Paulus konzentriert sich stattdessen auf Jesus als den Gekreuzigten. Den hatte er vor Augen. Das Kreuz hatte er vor Augen. Das kannte er. Wir haben das alle nicht mehr vor Augen, wir kennen diese Realität der Kreuzigung gar nicht mehr. Wir haben das Kreuz zu einem kultivierten Genuss gemacht, so dass wir das nackte Elend gar nicht mehr sehen, das sich da zeigt.

Auch wenn er nicht selbst dabei gewesen ist - Paulus wird genug Gekreuzigte gesehen haben, um zu wissen, was da geschehen ist bei der Kreuzigung Jesu. Er wird das ganze elende und entwürdigende Sterben eines Gekreuzigten sehr deutlich vor Augen gehabt haben. Denn darum ging es bei der Kreuzigung ja: dass die Menschen drumrum über Stunden hinweg die Gekreuzigten elend verrecken sehen konnten. Dass jeder die Entwürdigung dieser Menschen wahrnehmen und sich daran ergötzen oder darüber erschrecken konnte. Alles war öffentlich zur Schau gestellt: die Schmerzen, die Angst, das Zucken, die Krämpfe, die Qualen eines versagenden Kreislaufs, das Blut und die Fliegen, die sich darauf niederlassen, der Kot und der Urin, die sich unwillkürlich im Sterben lösen, der menschliche Gestank, am Ende die Lähmung, das langsame Ersticken, weil die Lungen eines Gekreuzigten gar nicht genug Luft aufnehmen konnten, das Versagen von Atmung und Herzschlag. Ein elender, unglaublich hässlicher, ein würdeloser Tod.

Kreuzigen ist eine extrem entwürdigende, einen Menschen seiner menschlichen Würde beraubende Weise des Sterbens, und es zeigt allen die völlige Machtlosigkeit des Gekreuzigten, und seinen absoluten Kontrollverlust. Und es stößt diesen Menschen hinaus aus der Gemeinschaft der anderen, derer, die noch ein bisschen Macht, ein bisschen Kontrolle, ein bisschen Würde bewahren können.

Wieviel Hass, wieviel Verstörung muss dieser Mensch ausgelöst haben, dass er mit solcher Heftigkeit verfolgt wurde? Ein Mensch, der nichts anderes getan hat, als Gottes Liebe und Zuwendung zu zeigen zu denen, die zu kurz gekommen sind. Der Gesandte Gottes unter den Menschen, er erreicht die Menschen nicht mehr. Die Menschen wollen diesen Gesandten und seine Botschaft von Gott nicht hören, sie bringen sie zum Verstummen. Gott selbst wird zum Schweigen gebracht in der Kreuzigung.

Und genau da, sagt Paulus betonter als irgendwer sonst in der Bibel, genau da in diesem Gekreuzigten offenbart sich Gott. Genau da ist Gott dabei. Genau da lebt Gott.

Das ist schon ein ungeheuerlicher Gedanke, und ein noch ungeheuerlicheres Gefühl. Auf solch ein Elend zu blicken und da Gott zu sehen. Genau da Gott zu vermuten, im Blut, im Gestank, im verwesenden Fleisch dieses gedemütigten und zerschundenen Menschen Jesus. Das ist schon eine Zumutung, und es ist kein Wunder, dass die einen sich darüber ärgern und die anderen das alles zusammen für unsinnigen Quatsch halten. Und es ist kein Wunder, dass diese Botschaft vom Gottessohn, der elend am Kreuz zugrunde geht, das Vorstellungsvermögen der Zeitgenossen überstieg. Und es bis heute übersteigt.

Nicht einmal die Jünger Jesu, und nicht die  Frauen unter dem Kreuz, Maria, seine Mutter, und Maria aus Magdala, haben damals verstanden, was da am Kreuz geschah. Wie sollten sie auch? Kein Mensch war darauf vorbereitet. So etwas sprengte den Rahmen des Vorstellbaren.

Auch Paulus hätte das nicht erkannt am Kreuz selbst. Am Kreuz selbst lässt sich nur das Elend und die Entwürdigung dieses einen Menschen Jesus erkennen. „Seht, ein Mensch“, sagt der Hauptmann der Soldaten, die am Kreuz ihre Routine verrichten, und er meint es genau so: ein verächtliches, zerschlagenes, wehrloses, beschmutztes Wesen, das ist dieser Mensch. Nichts Göttliches, nichts Erhabenes und nichts Erhebendes, nichts Hoffnungsvolles.

Aber trotzdem kann Paulus behaupten, dass dieser elende, geschundene, entwürdigte Mensch der ist, der Gottes Liebe und Barmherzigkeit bringt und verkörpert. Und Paulus kann das, weil er eben nicht mehr unter dem Kreuz beim Gekreuzigten steht, sondern dem Auferstandenen begegnet ist. Dieser gekreuzigte Jesus ist von Gott auferweckt worden, und dieser auferweckte, auferstandene Jesus ist den Menschen begegnet und von ihnen als lebendiger Christus erkannt worden.

Das erst hat den Menschen wie Paulus und den Jüngern und den Frauen unter dem Kreuz die Augen geöffnet für das, was im Kreuz wirklich geschehen ist. Dass Gott Jesus auferweckt, das erst lässt den klaren Rückschluss zu, dass Gott Jesus auch am Kreuz nicht allein gelassen hat, dass Gott dort mit Jesus war und mit ihm gelitten hat. Und das zeigt: das ist der Ort, an dem Gott zu finden ist. Im Kreuz, im nackten Elend, beim entwürdigten und zerschlagenen Menschen, da ist der Ort Gottes. Da, wo die anderen Menschen ihn nie vermutet hätten, und da, wo auch die Jünger nicht mehr auf ihn gehofft haben.

Damit ist aber auch die Botschaft dieses gekreuzigten Menschen, die ihn überhaupt erst ans Kreuz gebracht hatte, wieder ins Recht gesetzt. Nicht die Herrscher dieser Welt werden am Ende Recht behalten, sondern Jesus mit seiner Botschaft von Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Nicht die werden am Ende Recht behalten, die Ordnung, Sicherheit, Geschäft und Gewinn aufrechterhalten wollen, sondern die, die Nächstenliebe und Großzügigkeit, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit üben.

Liebe Gemeinde, Gott, und Jesus mit ihm, ist extrem parteilich. Für die Armen, für die Entrechteten und Verachteten. Wir sollten uns da nichts vormachen. Dieser Gott lässt sich dem Egoismus und der Gier einer Gesellschaft wie der unseren nicht einfach drüberkleistern, um alles ein bisschen netter zu machen und ein ruhiges Gewissen zu verleihen. Dazu gibt er sich nicht her. Dazu ist Jesus nicht seinen langen Weg ans Kreuz gegangen.

Paulus sagt: „Wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit, denen aber, die berufen sind, Juden wie Heiden, Gottes Kraft und Gottes Weisheit.“

Und das ist doch der tiefe Grund, warum wir alle hier versammelt sind, immer wieder. Etwas an dieser Botschaft, die so quer steht zu dem, was unsere Welt beherrscht und regiert, zieht uns an, bewegt uns dazu, uns dieser Botschaft auszusetzen, die zugleich so verstörend ist.

Es gibt keine einfachen Antworten. Wie schaffen wir kleiner Haufe evangelischer Christen es, Gottes Botschaft in unserer Gesellschaft Gehör zu verschaffen? Oder auch nur in unserem eigenen Leben Raum zu geben?

Ich habe dafür kein Rezept zu bieten. Marketingmäßig haben wir es schwer mit unserem Gott. Damals wie heute.

Aber dass wir alle hier versammelt sind, dass wir bereit sind, uns beunruhigen und in Bewegung versetzen zu lassen von diesem Gott und seinem Christus, das ist für mich ein hoffnungsvolles Zeichen. Dass wir nicht aufhören zu fragen und zu suchen.

Wir können und werden dann nicht mehr einfach mitschwimmen im Mainstream der gesellschaftlichen Meinung. Wir können und werden Mittel und Wege suchen und – mit Gottes Hilfe – finden, seine Liebe und Zuwendung den Menschen in unserer Welt zu zeigen und zu bezeugen. Wir können und wir werden Mittel und Wege finden, unseren nahen und fernen Nächsten zur Seite zu stehen und zu geben, was sie brauchen. Miteinander und mit dem Beistand Gottes und Jesu Christi, des auferstandenen Gekreuzigten.

23.06.2019: Predigt zu Joh 4,16b-29 von Lektorin Dr. Astrid Zinnecker-Rönchen

16. Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott in ihm.

17. Darin ist die Liebe bei uns vollendet, auf dass wir die Freiheit haben, zu reden am Tag des Gerichts; denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt.

18. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus. Denn die Furcht rechnet mit Strafe; wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe.

19. Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt.

20. Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht.

21. Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.

Liebe Gemeinde, In der letzten Woche ist mein Leben und vor allem das meines Partners  ziemlich durcheinander gewirbelt worden, und es hat uns erstmal den Boden unter den Füßen weggerissen.

Manchmal ist das so. Manchmal reißt es einen aus dem Trott, wirft einen um und darnieder. Manchmal spürt man unmittelbar, wie leicht die eigene Existenz in Schlingern kommen kann.

Wenn man unerwartet gekündigt wird. Wenn man eine schlimme Krankheitsdiagnose erhält. Wenn man einen Menschen verliert, der einem wichtig war. Wenn einem ein Lebensziel zerrinnt. Wenn ein großer Traum platzt, in den man viel investiert hat. Wenn man nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll. Wenn man kein Glück hat, und dann auch noch das Pech dazu kommt.

Wir wissen alle, dass das zum Leben gehört. Man kann sogar sagen: Das ist das menschliche Leben. Über die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte, und heute noch in vielen Teilen dieser Welt war und ist Leben bedroht von Armut und Hunger, von Krieg und Gewalt, von Naturkatastrophen und tödlichen Krankheiten. Nur wir hier in unserer westlichen Welt, wir haben es geschafft, uns einzureden, das Leben sei Spaß und Selbstverwirklichung, oder sollte es doch weitgehend sein.

Und wir schaffen es die meiste Zeit, alles von uns fernzuhalten, was diese Vorstellung stören könnte. Für den Fall der Fälle haben wir Dienstverträge und Arbeiterkammer, Versicherungen und Vorsorgeuntersuchungen, Notrufsysteme und Pensionskassen, Sparstrümpfe und ein soziales Netz. Das beruhigt.

Und ansonsten schieben wir das weit weg, das Bedrohliche. Augen zu und durch. So weit und so lange, bis es uns um die Ohren fliegt.

Wir schaffen es, vor uns selbst so zu tun, als sei das Leben eigentlich eine sichere Sache. Als hätten wir die Kontrolle über unser Leben, als könnten wir über seinen Verlauf frei entscheiden. Das ist doch das Markenzeichen unserer Zeit: Dass uns aus allen Kanälen die Botschaft von individueller Freiheit und Selbstverwirklichung entgegentönt. Dass wir glauben, selbst über unser Leben bestimmen zu können – und wehe dem, der unsere Freiheit dazu zu beschneiden wagt.

Aber was uns da so laut und selbstgewiss aus allen möglichen Räumen der Gesellschaft zugerufen wird, ist am Ende womöglich nichts als ein Versuch, die unterschwellige Angst unter Kontrolle zu halten. Der Versuch, die tief innen liegende Lebensangst in unserer Welt über weite Strecke zu ignorieren.

Die Angst, nicht Herr im eigenen Haus zu sein. Die Angst, ausgeliefert zu sein an andere Menschen und ihre Willkür. Die Angst, zu kurz zu kommen. Die Angst, dieses eine Leben, das ich habe, falsch zu leben. Die Angst, seine Möglichkeiten nicht auskosten zu können, seine Chancen zu verpassen. Wer, wenn nicht ich selbst sollte mein Leben bestimmen und erfüllen können? Wer, wenn nicht ich selbst sollte es verwirklichen können? Und was bliebe von mir, wenn ich das verpasste?

Und wenn wir schon diese Angst nicht ertragen und deshalb verdrängen müssen – um wieviel weniger ertragen wir die Angst vor echten Verlusten: vor Verarmung und sozialem Abstieg, vor Krankheit, Einsamkeit und Sterben?

Ich bin überzeugt, hinter dem dünnen Firniss der Selbstgewissheit lauert bei einem jedem von uns die Angst. Eine mehr oder weniger aktuelle Angst. Auch wenn wir sie nicht oft nicht mehr wahrhaben wollen. Und schon gar nicht artikulieren, weil das gesellschaftlich tabu ist.

Aber eine Gesellschaft, in deren Kern die Angst regiert, auch wenn niemand sie wahrhaben will, eine solche Gesellschaft kann nicht gesund sein. Und ein Mensch, der heimlich von seiner Angst regiert wird, kann nicht frei denken und handeln. Er wird anderen Menschen nicht offen begegnen,  und konstruktiv wird er nur sein im Hinblick auf Maßnahmen, die ausgrenzen, was ihn bedroht. Tore verschließen, nicht öffnen, das wird er tun.

Angst verschließt das Herz, macht es starr. Wer Angst hat, versucht festzuhalten an dem, was er hat und ist und will. Wer Angst hat, wird nicht teilen wollen, wovon er sowieso zu wenig zu haben glaubt. Wer Angst hat, kümmert sich zuerst um sich und sein Eigenes.

Aber das, liebe Gemeinde, ist nicht christlich. Zuerst für das Eigene Sorge zu tragen, ist nicht christlich. Tore verschließen ist nicht christlich. Zäune aufrichten ist nicht christlich. Was christliche Überzeugung ist, sagt der 1. Johannesbrief ganz deutlich.

Gott ist Liebe, sagt er.

Er sagt übrigens nicht: ‚die Liebe ist Gott‘. Man kann das man nicht umdrehen. Nicht in allem, wo ‚Liebe‘ drauf steht, ist ‚Gott‘ drin. Und man wünschte sich, dass das all die Menschen, die im Raum der Kirche Schutzbefohlene unter dem Deckmantel der Liebe missbraucht haben, in ihre Herzen gehämmert bekämen.  

Die Liebe, die im 1. Johannesbrief gemeint ist, die ist nicht Gott, aber sie ist von Gott.

Und alles, wo mit Recht ‚Gott’ draufsteht, ist Liebe. Und wenn es nicht Liebe ist, dann ist es auch nicht Gott. Liebe und Gott, das sind zwei Begriffe für das gleiche. Sie erklären einander, sie erfüllen einander. Klingt das nach frommem Pfarrergequatsche? Ja, oder? So reden wir gern.

Aber was hier so abstrakt und spekulativ klingt, das hat der Verfasser des ersten Johannesbriefes kurz zuvor erklärt: „Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott einen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. Darin besteht die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden.“ (1.Joh 4,9f)

Kann man es noch deutlicher sagen, was mit Gottes Liebe gemeint ist? Nicht irgendein spekulatives Gequatsche über Liebe, sondern das Kommen Gottes ins Fleisch in Jesus Christus. Wer das verstanden hat und im Herzen behält, der darf sich dann auch in Gottes Liebe oder auch ‚von guten Mächten wunderbar geborgen‘ fühlen. Aber wer oder was die ‚guten Mächte‘ sind, das erkennen wir an Gottes Handeln in und an Jesus Christus. Gottes Liebe hat einen Eigennamen: Jesus.

Das ist Gottes Liebe zu uns, dass er seinen Sohn gesandt hat in diese unsere Welt. Und Furcht ist nicht in dieser Liebe, sondern diese Liebe treibt die Furcht aus. Das ist das Evangelium: Gott ist – in der Gestalt Jesu Christi -  da, wo wir sind und uns fürchten. Die Tiefe der Not – Gott kennt sie von innen. Die Angst vor dem Sterben und dem Tod – Gott kennt sie von innen. Die Einsamkeit, den Verlassenheit – Gott kennt sie von innen. Das Gefühl, sein Leben verfehlt zu haben, nicht durchgedrungen zu sein, nicht gehört zu werden, die Furcht, verkannt zu werden, von anderen Menschen verachtet, aus der Gemeinschaft verstoßen zu sein, das Gefühl, vernichtet zu werden – Gott kennt das von innen.

Unsere Ängste, unsere berechtigten, aber so gern verdrängten Ängste kennt Gott von innen.

Und er sagt: ‚Fürchte dich nicht. Ich liebe dich. Ich stehe dir bei. Du merkst es vielleicht nicht immer, aber ich bin bei dir und lasse dich nicht ins Bodenlose fallen. Geh und öffne dich, und du wirst sehen, dass es viel mehr Möglichkeiten und Hilfe gibt, als du gedacht hast. Und wenn du das nicht kannst, weil dir die Angst das Gehirn vernebelt, so werde ich dich dennoch halten und begleiten und am Ende aufnehmen. Dafür habe ich meinen Sohn unter euch Menschen geschickt, damit sie alle und auch du verstehen: Ich will, dass ihr lebt und nicht vergeht‘.

Liebe Gemeinde, der 1. Johannesbrief hat es messerscharf erkannt: Es ist schwer, in dieser Gewissheit sein Leben zu gestalten. Wir vergessen es immer und immer wieder und lassen uns immer und immer wieder von unseren Ängsten übermannen. Gott dafür zu lieben und zu vertrauen, den wir nicht sehen und oft so wenig spüren, das ist schwer.

Aber, sagt der 1. Johannesbrief, dafür haben wir ja die Geschwister in Gott. Die Menschen neben uns. Den nahen und auch den fernen Nächsten. Die können wir sehen, und die können wir folglich viel leichter lieben. Da wird’s konkret, da erfahren wir die Realität unseres Glaubens.

Ich persönlich bin ja nicht sicher, ob es nicht doch viel schwerer ist, die konkreten Menschen um einen herum zu lieben, gerade weil man sie sieht mit all ihren Fehlern und Eigenheiten. Ist es nicht viel einfacher, sich einzubilden, man liebte Gott, der irgendwie fern und abstrakt bleibt, als den Menschen neben mir, der meine Zeit und Aufmerksamkeit für Dinge verlangt, die mich gerade nicht interessieren?

Aber egal, was nun leichter ist, – Gott, sagt der 1. Johannesbrief, hat uns das Gebot gegeben, dass wir, wenn wir Gott lieben wollen, auch die Menschen um uns lieben müssen. Und übrigens nicht nur die um uns, sondern die anderen auch.

Das, sagt der 1. Johannesbrief, hat seinen Grund in Gott selbst. Weil dieser Gott ein Gott

ist, der zu den Menschen kommt, der den Menschen nahekommt, der sie liebt und will, dass sie leben, kann man diesen Gott nicht lieben, ohne zugleich auch zu lieben, was Gott liebt. So einfach ist das.

Und ich weiß doch, dass mein naher wie mein ferner Nächster genau wie ich in diese Welt geworfen ist. Ich weiß doch, dass er genau wie ich dem Elend und der Not ausgesetzt ist. Ich weiß doch, dass er genau wie ich von Ängsten beherrscht und genau wie ich darauf angewiesen ist, dass Gott sich seiner erbarmt.

Wie könnte ich selbst auch nur eine Ahnung von der Liebe Gottes haben, und sie nicht teilen wollen, weitergeben an diesen ebenso armen und elenden Menschen, für den Jesus Christus genauso und noch mehr gelebt und gelitten hat, gestorben und auferstanden ist wie für mich? Dazu hat Gott ihn mir zum Nächsten gegeben, damit ich an ihm erfahre, und er an mir, was Gottes Liebe bedeutet.

Weil Gott die Menschen (und so dann auch mich) liebt, bleibt mir nichts anderes übrig, als die Menschen zu lieben.

Weil Gott sich in Jesus Christus aus Liebe in Bewegung gesetzt hat zu uns Menschen, bleibt uns, wenn wir ihn lieben wollen, nichts anderes übrig, als uns in diese Bewegung hineinzubegeben, ein Teil von ihr zu werden. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als Gottes Liebe zu jedem Menschen zu bezeugen. Und als die Tore zu öffnen und die Mauern niederzureißen.

„Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott in ihm.“

19.04.2019: Karfreitag - Predigt zu Joh 19,16-30 von Lektorin Dr. Astrid Zinnecker-Rönchen

„16 Da überantwortete er ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber,

17 und er trug selber das Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha.

18 Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte.

19 Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der Juden König.

20 Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache.

21 Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreibe nicht: Der Juden König, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der Juden König.

22 Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.

23 Die Soldaten aber, da sie Jesus gekreuzigt hatten, nahmen seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch den Rock. Der aber war ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück.

24 Da sprachen sie untereinander: Lasst uns den nicht zerteilen, sondern darum losen, wem er gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt (Psalm 22,19): »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten.

25 Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria Magdalena.

26 Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn!

27 Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.

28 Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet.

29 Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Ysop und hielten ihm den an den Mund.

30 Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht. Und neigte das Haupt und verschied.“

Liebe Gemeinde,

heute ist Karfreitag, der Feiertag, über und für den wir Protestanten in den letzten Wochen so erbittert gekämpft haben.

Theoretisch unser höchster Feiertag.

Theologisch gesehen ein so essentieller Tag für alle Christen, dass eigentlich keine christliche Konfession ihn einfach preisgeben dürfte.

Tatsächlich aber zuckt die katholische Kirchenspitze in Österreich beim Karfreitag gegenüber der Politik und der Wirtschaft mit den Schultern wie Pilatus bei der Übergabe Jesu an seine Schergen: ‚Da, nehmt ihn hin, macht mit ihm, was ihr wollt‘.

Und wir Protestanten? Heute morgen habe ich im Radio gehört, dass irgendwelche Leute von der Wirtschaftskammer gesagt haben, es habe kaum Urlaubsanträge für den heurigen Karfreitag gegeben.  Die unterschwellige Botschaft sollte wohl sein: Naja, so wichtig ist dieser Tag den Protestanten denn doch nicht.
In der öffentlichen Diskussion hatte ich jedenfalls den Eindruck, dass es mehr um die Empörung über die Beschneidung von Arbeitnehmerrechten und Feiertagszuschlägen ging als um die Frage nach dem Inhalt dieses Feiertags.
Immerhin, heute sind die Reihen hier ganz gut gefüllt, und das ist freut mich sehr. Und wenn die Diskussion den Effekt hatte, dass uns allen wieder deutlicher wurde, wie wichtig uns dieser Tag ist, dann hat sie ihren Sinn.

Karfreitag ist ein mühsamer Tag, elend schwer zu verstehen. Und je kirchenferner man ist, je weniger man am Gottesdienst teilnimmt, desto schwieriger wird das.  Das kann man niemandem vorwerfen, denn das ist ja auch kein Wunder. Der Karfreitag steht quer zu allem, was in unserer Gesellschaft die vorherrschenden Mechanismen sind. Quer zu dem, was wir alltäglich erfahren.

„Wir predigen den gekreuzigten Christus – den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit“ (1.Kor 1,23), so bringt Paulus das im Korintherbrief auf den Punkt. Beide, Juden wie Griechen, hatten klare Vorstellungen davon, wie Gott, ihr Gott oder überhaupt ein göttliches Wesen, zu sein hätte.

Die Juden stießen sich an der Menschlichkeit dieses Gottes, den Jesus vorstellte. Daran, dass Gott in Jesus so nahe an die Menschen herankam, sich so sehr zu ihnen herabließ. Sie stießen sich daran, dass er nicht mehr groß, erhaben und unberührbar war. Gott wurde durch das, was Jesus sagte und tat, aus der Eindeutigkeit seiner himmlischen Majestät in die Zweideutigkeit unserer Welt hinabgezogen, so muss es den Juden um Jesus herum vorgekommen sein. Damit schien auch seine  Heiligkeit verloren zu gehen, dieser grundsätzliche und unüberbrückbare Abstand zwischen Gott und Geschöpf. War das wirklich noch Gott? Es ist so viel einfacher, sich Gott mächtig vorzustellen, wenn er in seiner Himmelsferne bleibt. Und vielleicht ist es für einen Gläubigen leichter, sich Gott mächtig, wenn auch untätig in seiner Heiligkeit vorzustellen, als einen Gott, der sich hineinbegibt in die menschliche Sphäre und sich scheinbar ohnmächtig dieser Menschen ausliefert.

Und die Griechen stießen sich an der Unvernunft dieses Gottes, an dieser scheinbaren Schwäche. Ein Gott, der sich von Menschen überwältigen lässt, anstatt sie mit Macht zu überwältigen. Ein Gott, der leidet, der mitleidet und sich erbarmt, anstatt ewige Prinzipien zu verkörpern und aus der kühlen Distanz des unbewegten Bewegers die Menschen allenfalls zu betrachten, noch eher aber einfach zu ignorieren?  Ein Gott, der die Menschen nicht sich selber und ihren eigenen Geschäften überlässt, sondern den Anspruch erhebt, ihr ganzes Leben zu bestimmen? Ein Gott, der sich nicht auf Sonntagsreden beschränken lässt, ein Gott, den man nicht einfach einen guten Mann sein lassen kann? Ein Gott, der sich klein macht und selber bestens auskennt mit Leiden und Sterben, ein geradezu aufdringlicher Gott, der hier in dieses irdische Leben hineintritt, anstatt uns allenfalls zu sich zu erheben?

Das Kreuz Jesu Christi ist ziemlich unbegreiflich, das war schon damals so, das ist nichts Neues. Und es ist bis heute so. Unser Gott ist kein einfacher Gott, und Jesus Christus ist niemand, den man mit unseren ‚normalen‘ Maßstäben von Menschlichkeit und Gottheit verstehen kann.

Karfreitag ist so gesehen vor allem eines: Der Tag, an dem die völlige Unvergleichlichkeit des christlichen Gottes und des Glaubens an ihn zutage tritt. Religionswissenschaftlich gesehen ist der Karfreitag unser, der Christen Alleinstellungsmerkmal.
Alles andere gibt’s in anderen Religionen auch. Göttliche Gesetze und Verhaltensregeln. Rituale für Geburt und Sterben. Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Sogar das Sterben und Auferstehen von Gottheiten in archaischen Fruchtbarkeitsreligionen im Rhythmus der Jahreszeiten oder des Tag- und Nachtwechsels.

Aber dass unser Gott an aktiv und ohne unser Zutun an unsere Stelle tritt, unsere Schuld trägt, unser Leiden teilt, bis zum Tod, das ist fremd und schwer verständlich. Dass unser Gott in der Person Jesu Christi in das menschliche Leben hineintritt, uns ganz nahe kommt, dass er den Menschen nicht nur durch Regeln und Gesetze vermittelt, was er von ihnen und ihrem Leben erwartet, sondern dass er selber teilnimmt an diesem Leben, so elend, so schwach, so schuldig es auch verläuft – das ist anders als überall sonst. Das ist fremd.
Und trotz zweitausend Jahren Christentumsgeschichte  müssen auch wir Insider immer wieder neu darum ringen zu verstehen, was da eigentlich wirklich geschieht.

Liebe Gemeinde,

Pfarrer Deml hatte in den letzten Wochen eifrig Fragebogen verteilt an die Gemeinde und darüber hinaus mit der Frage, was dem Betreffenden der Karfreitag bedeute.

Ich möchte Ihnen das heute erzählen.

Ich komme aus einer völlig kirchenfernen Familie. Ich wurde weder getauft noch konfirmiert und hatte als Konfessionslose nur sporadisch Religionsunterricht in der Schule. In dem wurde aber offenbar der christliche Glaube auch nicht so besprochen, dass ich das irgendwie interessant gefunden hätte. Dass ich am Ende sogar Theologie studiert habe und Pfarrerin wurde, hat mit der Geschichte und der Prägung meiner Familie zu tun.

Mein Großvater väterlicherseits war eine schwierige Persönlichkeit. Ein Nazi der ersten Stunde, ein kleines Licht in der Bewegung, glaube ich, aber überzeugt dabei. Uneinsichtig bis zum Schluss. Menschlich eine schwierige Gestalt, einer, der sich nach oben anpasste und nach unten trat. Ein Haustyrann, voller Misstrauen. Wehleidig dazu, als seine Krankheit ihn immer fester in den Griff nahm. Als der Großvater dann tot war, waren eigentlich alle erleichtert.

Ich habe als Jugendliche seine letzten Jahre mitbekommen, habe gesehen, wie er lange Zeit in seinem Siechenbett lag, unfähig, zu leben, unfähig, dieses elende Leben loszulassen. Eine fast physisch greifbare Wolke von Angst, Bitterkeit, Wut waberte über diesem Bett. Dass er nie über die Nazi-Zeit und den Krieg redete, dass das ganze Thema in der Familie ein großes Tabu war, über das man nicht redete, versteht sich fast von selbst.

Das hat mich sehr beschäftigt. Mir erschien diese Art des Sterbens nach einem solchen Leben geradezu zwangsläufig. Und ich habe damals beschlossen: ich will nie so leben, dass ich so sterben muss.

Aber im Lauf der Jahre wurde mir auch klar: Das, was da um meinen Großvater herum geschehen war, das hatte eine Vorgeschichte und eine Nachgeschichte. So jemand fällt nicht vom Himmel, und das, was man braucht, um ein überzeugter Nazi zu werden, oder ein fanatischer Anhänger irgendeiner anderen menschenverachtenden Ideologie, das sind Prägungen und Erfahrungen, die gar nicht unbedingt viel mit politischen Fragen zu tun haben. Sondern mit dem Umgang mit dem eigenen Leben und Erfahren.

Und ich glaube, ein Aspekt davon ist, wie man mit Schuld umgehen lernt, und mit der eigenen Unzulänglichkeit.

In meiner Familie konnte niemand einen Fehler zugeben. Zu sagen: ‚Da habe ich mich geirrt‘. ‚Da habe ich falsch gehandelt‘. ‚Da habe ich Dich verletzt, das hätte ich nicht tun dürfen. Das tut mir leid‘. Das gab es nicht. Das konnten sie nicht, mein Großvater nicht, und schließlich auch nicht mein Vater und seine Brüder.
Sie durften keine Fehler machen, und wenn sie sie doch machte, mussten sie leugnen, dass es sich um einen Fehler handelte. Sie konnten keine Schuld eingestehen, so wie sie auch nicht verzeihen konnten.
Wenn einer so etwas gesagt hat: ‚Da habe ich versagt‘, dann wurde noch draufgehauen. Es war, als ob ein solches Eingeständnis dazu führte, dass die eigene Würde, der eigene Wert sich in nichts auflöste. Es war, als könne man sich so etwas nicht leisten, weil man dann ins Bodenlose fiel, ohne Netz und Auffangtuch.
Und das alles macht eng. Wenn alles daran hängt, dass ich vor mir und/oder den anderen Menschen gut dastehe, wenn mein ganzer menschlicher Wert daran hängt, dass ich keinen Fehler, kein Versagen zugeben muss. Wenn ich nicht scheitern darf. Das macht hart und unflexibel.

 Es begrenzt die eigenen Möglichkeiten, den eigenen Bewegungsspielraum, die eigene Entwicklungsmöglichkeit. Für meinen Großvater gab es keine Möglichkeit der Umkehr. Für ihn gab es ein Leben lang nur ein ‚weiter so wie bisher‘: weiter heimlich seinen Nazi-Träumen anhängen, weiter mit seinen Kriegskameraden den verlorenen Zeiten nachtrauern, weiter sein Herz verhärtet halten gegen alle die Millionen Opfer sinnloser Großmannssucht. Weiter leugnen, dass er sich dabei schuldig gemacht hatte. Weiter den Groll der Gescheiterten pflegen.

Ein Leben von unglaublicher seelischer Armut.

Liebe Gemeinde,

man stelle sich vor, mein Großvater hätte auf irgendwelchen seltsamen Gotteswegen Bekanntschaft gemacht mit der Botschaft von diesem Gott am Kreuz. Rein formal hat er das ja sicher, Anfang der 20. Jahrhunderts wurde ja noch jeder getauft und konfirmiert, was anderes gab’s gar nicht. Aber ganz offenkundig hat es ihm nicht viel gesagt. Da ist nichts bei ihm angekommen von dieser Botschaft.

Aber man stelle sich vor, so ein Mensch wie mein Großvater hätte das entdeckt, dass Karfreitag bedeutet, und er hätte versucht, das zu glauben: Gott kommt uns Menschen nahe, so nahe, dass wir mit all unserem Versagen, aller Schuld, allem Elend bei ihm geborgen sind und sein dürfen. Das ist doch die großartige Botschaft von Karfreitag: Egal, wie du bist und geworden bist – du darfst sein. Du darfst sein, aber du musst nicht so sein, wie du bist.

Du musst nicht krampfhaft an dem festhalten, was du in der Vergangenheit falsch gemacht und falsch entschieden hast. Du darfst umkehren, und es wird dich nicht das Leben kosten, es wird nicht einmal den Wert deines Lebens zerstören. Es darf dir leid tun, was du falsch gemacht hast, und du darfst es anders machen, und du wirst dabei nicht kleiner und schwächer, sondern größer und stärker werden. Gott ist an deiner Seite. Nicht für die Menschenverachtung und die Verbrechen, denen du mit deiner politischen Entscheidung Raum gegeben hast. Nicht dafür, dass du einfach so weiter machst mit deiner Menschenverachtung und der Herabwürdigung deiner Mitmenschen.

Sondern trotzdem. Ich, Gott, ich liebe dich trotzdem und halte an dir fest. Ich gebe die Hoffnung für dich nicht auf. Ich bleibe hier bei dir, an meinem Kreuz, das eigentlich deins ist. Ich werde dich nicht schubsen und nicht drängen, ich werde einfach nur hier bleiben, an deiner Seite, in deiner Enge, in deiner Verkorkstheit, in deiner Angst.

Ja, man stelle sich vor, mein Großvater hätte das entdeckt. Dann, liebe Gemeinde, könnten wir mal gucken, was passiert.
Es würde dann jedenfalls schwierig, an der eigenen Angst, der eigenen Verkrampftheit festzuhalten. Es würde schwierig, ein hartes Herz zu behalten. Wenn Gott neben und hinter einem Menschen steht, wird der Raum automatisch weiter – Gott braucht ja Platz.
Und dann kommen die Räume in Bewegung, dann werden die Mauern und Wände durchlässiger, dann verschieben sich die Grenzen. Dann wird möglich, was zuvor unmöglich erschien.

Das heißt noch lange nicht, dass fortan alles einfach und problemlos wäre. Wahrscheinlich hätten die Probleme dann erst so richtig angefangen, schließlich ist das ganze Umfeld auf die alte starre, enge Person eingestellt. Das hätte vermutlich sehr verunsichert. Es ist ja doch viel einfacher an den alten, gewohnten Wegen festzuhalten. Der alte tyrannische Misanthrop zu bleiben. Der Menschenverächter voller Selbstmitleid. Das ist wenigstens vertraut, und Vertrautheit schafft Sicherheit, auch wenn es die Sicherheit einer völligen inneren Starre ist.

Deshalb halten wir alle ja so gerne fest an unserm engen Herzen, unsern kleinlichen Gedanken, unserer mutlosen Seele. Das ist so vertraut und irgendwie sicher. Aber wo Gott in unser Leben tritt, da beginnt Bewegung. Da bricht die Erstarrung auf und da ist nichts mehr sicher.

Und Bewegung ist Leben. Und das Leben wird zurückkehren. Oder erstmals überhaupt einkehren in dieses enge verkorkste Herz. Und wer weiß, was dann alles möglich wird?

Liebe Gemeinde,

das ist für mich die Botschaft von Karfreitag:

Gott ist da, wo wir sind. Gott ist in Jesus Christus am Kreuz, und er ist an den vielen Kreuzen unseres Lebens. Es gibt keine Schuld, die so groß ist, dass Gott sie nicht in Christus von uns genommen hätte. Und es gibt kein Elend und kein Leid, das Gott nicht kennt, an dem er nicht teilnimmt. Gott kommt in Christus in den Raum unserer Schuld, unseres Elends und sucht und findet uns. Wir können uns dort von ihm finden lassen. Und wir dürfen sein, wie wir sind, und müssen doch nicht so bleiben.

Und wer weiß, was dann alles noch möglich wird?

 

10.03.2019: Invokavit - Predigt zu Hebr 4, 14-16 von Lektorin Dr. Astrid Zinnecker-Rönchen

Weil wir denn einen großen Hohepriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst und festhalten an dem Bekenntnis.

Denn wir haben nicht einen Hohepriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.

Darum lasst uns freimütig hinzutreten zu dem Thron der Gnade, auf dass wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden und so Hilfe erfahren zur rechten Zeit.

Liebe Gemeinde!

Wir kennen sie alle, die Hohepriester unserer Welt, die dank unserer Massenmedien und der sozialen Foren sichtbarer als je zuvor ihre Botschaften in die Welt hinausverkünden. Menschen, die den einen und einzigen Weg gefunden zu haben glauben, der der Menschheit oder wenigstens vielen Menschen oder wenigstens denen, die sich dran halten, das Überleben sichern wird.

Diese Hohepriester, die eine neue Ernährungsweise verkündigen, oder gleich einen neuen Lebensstil. Die ein bestimmtes Sportprogramm propagieren (und gerne gegen Geld vermitteln), eine Meditationstechnik, eine Lebenseinstellung. Oder auch nur eine bestimmte Weise, sich zu kleiden, sich zu schminken und zu bewegen, unerlässlich, um dazu zu gehören, dazu zum hehren Kreis der Eingeweihten.

Und viele folgen mit einer schon religiösen Beflissenheit diesen Hohepriestern des guten Geschmacks. Oder denen der richtigen Esskultur. Oder denen der achtsamen Lebenseinstellung. Den Hohepriestern der Selbstoptimierung.

Und natürlich stehen diese Hohepriester immer ein bisschen unerreichbar über uns, dem gemeinen Fußvolk mit all seiner Fehlbarkeit und Unvollkommenheit. Sonst bräuchten wir sie nicht. Sie repräsentieren ein anzustrebendes Idealbild eines Menschen. Und es ist egal, ob das Heidi Klum ist, die die Hirne pubertärer Mädchen auf Magersucht programmiert, oder Ulrich Strunz und seine zahlreichen Kollegen, die uns Sport- und Diät-Programme zum ewigen Jungbleiben und damit ja praktisch Unsterblichkeit versprechen. Oder diese Coaches, die uns predigen, dass wir unser Leben vereinfachen und effizienter nutzen müssen, dass wir nur ‚positiv‘ und ‚groß‘ genug denken müssen, und dann alles erreichen können, was wir nur wollen.

Hohepriester der Selbstoptimierung vermitteln Orientierung in einer unübersichtlichen Zeit. Sie stehen für durchschaubare und vielleicht unangenehme, aber einhaltbare Regeln, für eine klare Ordnung der Welt und oft auch für das Versprechen, dass diese Welt nicht alles ist und dass dem, der sich an ihre Regeln hält, ein Paradies offensteht. Vielleicht macht sie das so verführerisch. Glück, Gesundheit, Wohlbefinden, langes Leben – alles das wird plötzlich ‚machbar‘. Man kann es in die eigene Hand nehmen. Den Zufall steuern, das Schicksal austricksen. Das Gefühl von Kontrolle gewinnen.

Dafür sind Hohepriester da: Das Schicksal besänftigen, das Bedrohliche eingrenzen, die Urgesetze des gedeihlichen Lebens verkündigen. Und den Kontakt zur Gottheit zu vermitteln, zum Urgrund allen Lebens.

Liebe Gemeinde, so schwer ist das gar nicht zu verstehen, warum der Hebräerbrief Jesus Christus so beharrlich als unseren Hohepriester bezeichnet.

Der jüdische Hohepriester im Tempel war der eine einzige Mensch, der – ein einziges Mal im Jahr, am Yom Kippur – durch den Vorhang des Heiligtums in das Allerheiligste gehen durfte. In das Allerheiligste, Gottes irdische Wohnstatt sozusagen. Nur der Hohepriester durfte und konnte sich Gott nahen, und nur nach ausgefeilten Reinigungszeremonien, und nur an diesem Tag.

Dort brachte der Hohepriester dem Gott Israels ein Blutopfer dar, das die gute und lebenspendende Verbindung zwischen dem Volk und Gott wiederherstellen sollte. Die war über’s Jahr schon etwas brüchig und ungewiss geworden. Nun wurde das Band der Treue und Hingabe erneuert, vermittelt durch den Hohepriester.

Als der Hebräerbrief verfasst wurde, gab es keinen Tempel mehr. Das Hohepriesteramt hatte schon lange zuvor seinen guten Ruf eingebüßt, war entweiht und hinabgezogen worden in den Strudel politischer Ränkespiele. Nun war es mit dem Tempel gemeinsam endgültig verschwunden.

Der Verfasser des Hebräerbriefes fand es dennoch hilfreich oder zumindest reizvoll, Jesus als Hohepriester zu begreifen. Als den Vermittler zwischen dem heiligen Gott und den fehlbaren, sündenverhafteten Menschen. Aber indem er das Bild vom Hohepriester auf Jesus Christus gelegt hat wie eine Schablone, hat er es auch sofort wieder infrage gestellt. Denn was der Verfasser des Hebräerbriefes vom Hohepriester Jesus sagt, sprengt das Bild.

Dieser Hohepriester nämlich durchschreitet nicht nur den Vorhang zum Allerheiligsten ins irdische Wohnzimmer Gottes, sondern er hat den Himmel, die himmlischen Wohnungen Gottes selbst durchschritten. Dieser Hohepriester kann also jederzeit da sein, wo Gott selbst ist, er muss auf keinen Versöhnungstag warten, er muss sich nicht reinigen, er muss nicht als Bittsteller vor Gott treten. Er ist Gott schon immer und stets so nahe, dass er das nicht braucht.
Und dieser Hohepriester bringt Gott nicht nur das Blut eines Opfertieres dar, sondern er setzt sein eigenes Blut ein. Er ist also nicht nur der, der das Opfer opfert, sondern er ist auch die Opfergabe selber. So sagt es der Hebräerbrief. ‚Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt‘, singen wir in jeder Abendmahlsliturgie. Auch das sprengt unser Bild vom Hohepriester.

Bilder sind das. Fremde Bilder aus fremden Welten. Bilder, deren Begrenztheit gleich wieder aufgehoben wird, Bilder, die ihren Rahmen sprengen. Ganz offenbar bringt dieses Geschehen um Jesus Christus das mit sich. Dass es die Begrenztheit unserer gewohnten Bilder aufhebt. Dass es den Rahmen unserer Vorstellungskraft sprengt. Das Geschehen um Jesus Christus wird in Worte und Bilder gefasst, aber sobald wir meinen, wir bewegten uns auf vertrautem Boden,  werden die Worte und Bilder gleich wieder aufgehoben, überdehnt, verfremdet, über den Rahmen hinaus gezogen, in einen anderen Rahmen versetzt.

Und der Hebräerbrief setzt noch eins drauf. Dieser Hohepriester, sagt er, ist einer, der mitleidet mit unserer Schwäche. Das ist noch nichts Besonderes, sagt der Hebräerbrief, denn das können die Hohepriester alle. Weil sie Menschen wie wir sind, können sie unserer Schwachheit und unserem Irrtum mitfühlen. Es ist nämlich auch ihre Schwäche und ihr Irrtum (Hebr 5,2). Aber dieser Hohepriester hat nicht nur Sympathie für unsere Schwäche. Und dieser Hohepriester wird auch weiterhin versucht wie wir.

Aber, und jetzt kommt der Clou: er ist in allem wie wir, aber ‚ohne Sünde‘.

Das ist kein Spezialgedanke des Hebräerbriefs. Auch bei Paulus heißt es: „Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht“ (2. Kor 5,21). Das ist die Quintessenz. Das ist die Kernaussage des Evangeliums von Gottes Liebe zu den Menschen. Das ist die messerscharfe Trennlinie zwischen diesem Menschen Jesus und uns Menschen. ‚In allem wie wir, aber ohne Sünde.‘

Liebe Gemeinde, machen wir uns nichts vor. ‚In allem wie wir, aber ohne Sünde‘, das kommt so schlicht und einfach daher. Aber das ist die wirkliche Stolperschwelle dieses Predigttextes. Alles andere, wovon der Hebräerbrief hier redet, kann man sich noch irgendwie mit etwas Mühe erschließen. Aber dieser kleine Halbsatz hat es in sich.

‚In allem wie wir, aber ohne Sünde‘ heißt nämlich nicht nur, dass Jesus offenbar einen fundamentalen Unterschied zu uns normalen Sterblichen aufweist, nämlich seine Sündlosigkeit.  

Und das heißt zunächst vor allem: Dass wir normale Sterbliche offenbar in den Augen des Verfassers vom Hebräerbrief alle nur mit Sünde zu denken sind.

Ja, ich weiß wohl. Die meisten Menschen können mit dem Begriff ‚Sünde‘ nicht mehr viel anfangen. Viele weisen empört von sich, dass er etwas mit ihnen zu tun haben soll. In unserer Welt der Selbstbestimmung und Selbstoptimierung ist ‚Sündersein‘ auch ein ganz befremdliches Konzept. Und ‚Sünde‘ ist zu einem unglaublich banalen Begriff geworden. Die Diät-Sünde, die Bau-Sünde, die Umwelt-Sünde, der Verkehrs-Sünder.

‚Sündersein‘ hieße aber, dass wir nicht einfach über uns selbst verfügen können. Dass in uns Kräfte wirken und arbeiten, die uns entzogen sind. Kräfte, die uns dazu bringen, Dinge zu tun, die wir eigentlich nicht tun wollen. Oder vielleicht schon tun wollen, aber dann lieber doch nicht getan hätten, weil die Folgen bekannt unangenehm sind wie der Kater nach der durchzechten Nacht, und die wir aber schließlich aber trotzdem getan haben. Sündersein heißt, dass wir unseren Willen nicht letztlich steuern können. Dass wir uns selbst, unser Ich und all seine Wünsche, nicht loswerden können. Und dass wir uns in einem letzten und entscheidenden Sinn nicht selbst optimieren können.

Und das ist dann natürlich die nächste Unterstellung: Dieses Sündersein können wir nicht überwinden. Die Sünde können wir nicht selbst überwinden. In diesem Kräftemessen ziehen wir immer den Kürzeren gegen die Sünde.

Wenn das aber so ist, wenn unser Menschsein und die Sünde so eng miteinander verwoben sind, dass das eine nicht ohne das andere daherkommt, dann ist natürlich schon die Frage, was das denn heißen kann: Jesus sei ‚in allem wie wir, nur ohne Sünde‘? Ist das dann überhaupt noch ein Mensch wie wir? Menschen ohne Sünde – kann man sich das wirklich vorstellen? Ist das denn nicht am Ende doch nur eine übermenschliche Heldengestalt, dieser Mensch ‚wie wir, nur ohne Sünde‘? Am Ende dann doch ein Ergebnis perfekter Selbstoptimierung durch perfekte Sündenausmerzung?

Es gibt auf die Frage, wie man sich Jesus als einen Menschen ohne Sünde vorstellen kann, eine alte, traditionelle Antwort. Sie besagt, in unser Denken übersetzt: Jeder Mensch lässt auf einer Skala verorten, an deren einem Ende 100% Egoismus steht, und an deren anderem Ende 100% Selbstlosigkeit steht. Sie/Ihr und ich und alle Menschen stehen auf dieser Skala irgendwo mittenmang, die einen mehr da und die anderen mehr dort. Aber niemand steht an den 100%-Endpunkten, jedenfalls nicht am 100% Selbstlosigkeits-Endpunkt. Niemand – außer Jesus.

Jesus ist so selbstvergessen, so selbstlos, dass er keine Bedürfnisse für sich selbst hat. Jesus ist der Mensch, der nichts in sich selbst ist und will. Er ist ausschließlich der Mensch für andere. Sein Leben, sein Wirken, sein Ende: nur für die anderen. Für die Menschen. Für alle Menschen. Für uns. Das unterscheidet ihn von uns. Wir mögen viel für andere tun, wir mögen uns sogar für sie aufopfern – wir werden uns selbst, unsere Bedürftigkeit, unsere Wünsche, unsern Eigenwillen dabei trotzdem niemals ganz los. Jesus ist der eine Mensch, der ohne diesen Eigenwillen zur Welt gekommen ist. Jesus, sagt die Bibel, ist der Mensch, dessen Wille von Anfang an identisch war mit dem Willen unseres Gottes.

In der Bibel wird das oft mit dem Wort ‚Gehorsam‘ beschrieben. ‚Er war gehorsam bis zum Tod am Kreuz‘ (Phil 2,8). Das ist eine Vokabel, die in unserer Zeit zu recht in Verruf geraten ist. Aber worum es im Fall Jesu geht, ist klar: Es passt kein Blatt Papier zwischen Jesu Willen und Gottes Willen.

Das nennt die Bibel: ‚ohne Sünde sein‘. Jesus war der eine einzige Mensch ohne Sünde, weil sein Wille so eins mit Gottes Wille war, dass die Sünde keinen Ankerplatz finden konnte.

Genau das beschreibt in Gestalt einer Geschichte das Matthäus-Evangelium, wenn es die Geschichte der Versuchung Jesu in der Wüste erzählt, die wir eben in der Lesung gehört haben. Immer geht es darum, dass Jesus sich durch nichts versuchen lässt. Keine teuflische Versprechung kann ihn bewegen, auch nur einen Atemzug lang seine eigene Macht und Fähigkeit zu erproben, zu behaupten oder gar zu vergrößern zu wollen. ‚Versucht in allem wie wir, doch ohne Sünde‘. Da ist es uns vor Augen gemalt.

Liebe Gemeinde, wir stehen am Anfang der Passionszeit. In den nächsten Wochen werden wir, wieder einmal, in allen Facetten den langen Leidensweg Jesu ans Kreuz bedenken, diesen Weg, den er nicht um seinetwillen gegangen ist, sondern allein für uns. Jesus Christus, dieser Mensch für uns. Das Lamm Gottes. Der Hohepriester, der sich selbst und sein Blut an unserer statt zum Opfer gab.

Da gibt es noch viel zu sagen. Für heute möchte ich mich damit aber genauso zurückhalten, wie es unser Textabschnitt tut.

Sagen möchte ich Ihnen und Euch schon hier und jetzt: Dass wir dank Jesu Sein für uns ein fröhliches Liedchen pfeifen können auf alle Zumutungen, uns selbst zu optimieren. Wir müssen uns nicht perfektionieren, denn wir wissen, wir können es nicht. Er allein kann es, und er wird es auch mit uns tun.

Der eine Mensch für uns, gleich wie wir, doch ohne Sünde, der sich uns Sünder annimmt. Unser aller mit all unserer suboptimalen Nicht-Optimiertheit. Mit all unserer Unvollkommenheit, mit all unserer inneren Unklarheit und Ratlosigkeit, mit allem widerspenstigen Wollen, mit all unserem Abstand vom Selbstlosigkeitsende der Skala. Für uns alle ist er hohepriesterlich tätig geworden, für uns alle hat er das Heiligtum geöffnet und den Zugang zu Gott erneuert.

„Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zum Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben“!

3.02.2019 Predigt zu 1.Kor 1, 4-9 von Lektorin Dr. Astrid Zinnecker-Rönchen

"4. Ich danke meinem Gott allezeit euretwegen für die Gnade (des) Gottes, die euch gegeben ist in Christus Jesus,
5. dass ihr an allem reich gemacht worden seid in ihm, an aller Rede und aller Erkenntnis. 6. Denn das Zeugnis von Christus ist in euch kräftig geworden,
7. so dass ihr keinen Mangel habt an irgendeiner Gnadengabe, während ihr die Offenbarung unseres Herrn, Jesus Christus, erwartet.
8. Der wird euch auch fest erhalten bis ans Ende, dass ihr untadelig seid am Tag unseres Herrn Jesus Christus.
9. Treu ist (der) Gott, durch den ihr berufen worden seid zur Gemeinschaft mit seinem Sohn Jesus Christus, unserem Herrn."

Liebe Gemeinde!

Heute ist der 5. Sonntag vor der Passionszeit. Ein Sonntag, der aus kalendarischen Gründen selten vorkommt. Ein Sonntag, zu dem einem thematisch erstmal nicht viel einfällt. Aber irgendwem ist doch was eingefallen, Sie können es auf Ihrem Sonntagsgruß lesen: Dieser Sonntag steht unter dem Motto „Keine Lippenbekenntnisse!“ Das hat irgendeine liturgische Kammer irgendeiner Landeskirche für das passende Motto für diesen Sonntag gehalten. Und die Pfarrsekretärin hat das brav auf den Zettel gedruckt. Ich hab’s erst gar nicht gesehen, und dann war der Zettel schon gedruckt. Mein Fehler.

Keine Lippenbekenntnisse. Ich hätte das nicht dahin geschrieben. Keine Lippenbekenntnisse in der Kirche des Wortes Gottes? Wie absurd ist das denn?! Was haben wir denn anderes als Lippenbekenntnisse? Wie anders als über unsere Lippen können wir denn vermitteln, was wir glauben? Na klar, wir können durch mutiges und getreues Handeln bezeugen, was wir glauben. Aber wir müssen schon dabei erklären, was wir da bezeugen, denn Handeln ist verwechselbar.

Gutes und richtiges Handeln ist doch kein christliches Privileg. Selbst wenn wir Christen uns einig wären, was denn das gute und richtige christliche Handeln wäre – und das sind wir oft genug gar nicht! –, könnte man doch erwarten, dass andere aus ganz anderen Motiven genauso handeln. Das sollen sie tun, das kann uns ja nur freuen, aber zur Bezeugung unseres Glaubens taugt unser Handeln erst, wenn wir erklären, wie es mit unserem Glauben zusammenhängt. Also: Lippen auf, Bekenntnis her!

Und wenn wir mal viele Lippenbekenntnisse hätten, könnten wir uns nicht glücklich schätzen? Wenn Sie und Ihr und ich uns trauten, da raus zu gehen und mit unseren Lippen zu bekennen: Wir glauben an Jesus Christus, das ist uns über alle Maßen wichtig, da richten wir unser ganzes Leben drauf aus, das trägt uns durch Tag und die Nacht und alle Widerfahrnisse? Ist das nicht ein echtes Problem unseres Lebens als Christen in dieser Gesellschaft, dass wir uns oft gar nicht mehr trauen, uns als Christen zu outen? Dass es uns nachgerade peinlich ist, vom Glauben zu reden? Nicht zuletzt, weil wir selber Momente kennen, wo jemand auf eine Weise von seinem Glauben erzählt hat, die uns echt peinlich war? Um wie viel wichtiger wäre es, das Menschen auf eine gescheite und gar nicht peinliche Weise erzählten, warum ihnen der Glaube wichtig ist, was er ihnen schenkt. Die Kirche des Wortes Gottes lebt vom Reden und den Lippenbekenntnissen.

Und ich würde sogar sagen: Was ist das Abendmahl anderes als ein Lippenbekenntnis? Ein über unser Essen und Trinken und also über unsere Lippen vermitteltes Bekenntnis zur Gemeinschaft Jesu Christi?

Liebe Gemeinde, Paulus hat überhaupt kein Problem mit Lippenbekenntnissen. Und er scheut sich in keiner Weise, dick aufzutragen.

Paulus war es ja, der aus Jerusalem in die Welt gezogen ist und überall christliche Gemeinden gegründet hat. Wenn Paulus nicht gewesen wäre, wäre das Christentum eine kleine jüdische Sekte geblieben, die in Jerusalem auf die Wiederkunft des Messias Jesus gewartet hätte. Aber Paulus hat früh schon die Idee entwickelt, es sei sein Auftrag, die ganze bekannte Welt mit sozusagen Hotspots der christlichen Verkündigung zu versehen. Und er reiste darum in vielleicht dreißig Jahren unermüdlich und unter schwierigsten Umständen 1000e Kilometer hin und her.

Unter anderem auch nach Korinth. Dort gründete er ca. 50 nach Christi Geburt die Gemeinde. Nach anderthalb Jahren zog er weiter, er hatte ja eine Aufgabe. Und die aufmüpfigen, eigensinnigen Korinther mit ihren von fremden Ideen leicht entzündlichen Geistern machten ihm fortan das Leben schwer. Ein Zeugnis davon ist der erste Korintherbrief, in dem Paulus den Korinthern heftig und grundlegend ins Gewissen redet. Er rügt, er schimpft, er argumentiert, er ruft Gott zum Zeugen, er lockt, bekennt, er wirbt um den Glauben und das Vertrauen der Korinther. Bald wird er selbst wieder nach Korinth kommen, aber bis dahin soll und muss dieser Brief das Schlimmste verhüten und möglichst viele wieder auf den rechten Weg des rechten Glaubens bringen.

In unserem Abschnitt ganz am Anfang des Korintherbriefes ist davon noch keine Rede. Noch sind wir beim noch viel grundlegenderen Lippenbekenntnis des Paulus zu dieser Gemeinde. Mag er sich ärgern über sie, mag er leiden an ihrer Eigenwilligkeit und ihrem Egoismus, daran, dass sie mit ihrem Handeln und Reden das Evangelium eher verdunkeln als erhellen,  mag Paulus sich verletzt fühlen von der Weise, in der die Korinther ihn als ihren Gründungsvater missachteten – hier und jetzt bekennt Paulus nichts anderes als unendliche Dankbarkeit gegenüber Gott, der diese Menschen in Korinth zu seiner Gemeinde berufen hat.

Das nämlich ist der Kniff. Paulus begründet seinen langen Brief nicht damit, dass er diese Gemeinde gegründet hätte und deshalb ja wohl die höchste Autorität besitzen müsse. Paulus begründet die Existenz der korinthischen Gemeinde allein mit Gott und Jesus Christus. Sechs Verse ist der Predigttext lang, und in fünf davon fällt der Name Jesus Christus:

In Jesus Christus hat Gott ihnen seine Gnade gegeben, und die Predigt von Jesus Christus ist es, die in ihnen stark gemacht worden ist, so dass die Korinther damit alles haben, was sie brauchen, bis Jesus Christus sich am Ende der Zeit aller Welt und so auch ihnen offenbart. Und Gott wird sie bis zum Tag, an dem Jesus Christus offenbart, auch in der Gemeinschaft bewahren, weil er sie zur Gemeinschaft mit Jesus Christus berufen hat. Jesus Christus am Anfang, unterwegs und am Ende. Jesus Christus ist Ursprung, Weg und Ziel der Zuwendung Gottes auch zu den Korinthern.

Und – und das ist die Klammer um alles – die Klammer um die Jesus-Geschichte, die Klammer um das Wirken des Paulus, die Klammer um die Gemeinde von Korinth, die Klammer um die ganze Bibel und die Klammer um die Wirklichkeit der ganzen Kirche bis heute und morgen auch noch: Denn Gott, sagt Paulus, Gott ist treu.

Mag die Gemeinde in Korinth ein schrecklicher Haufen sein, wo es menschelt ohne Ende, wo unevangelische Streitigkeiten herrschen, unevangelische Nächstenverachtung, unevangelische Weltvergessenheit. Am Ende sind es nicht die Korinther, die das Evangelium machen, am Ende ist es Gott, der in Jesus Christus das Evangelium längst aufgerichtet hat. Es ist Gott, der dafür sorgt, dass es in, mit und unter aller menschlichen Unzulänglichkeit immer wieder durchbricht. Es ist Gott, der die Gemeinde in all dem durch Jesus Christus zusammenhält. Und es ist Gott, der am Ende seine Gemeinde erhalten wird.

Und das, finde ich, ist doch ein sehr beruhigender Gedanke. Nicht wir sind es, die die Kirche machen. Gott ist es, der Menschen herausruft aus dieser Welt zu seiner Gemeinde. Ekklesia. So nennt Paulus die Gemeinde in Korinth im ersten Vers des Korintherbriefs. Ekklesia, die Herausgerufenen. Anscheinend hat Paulus diese Bezeichnung erfunden. Oder vielmehr: Er hat eine einen Begriff aus der griechischen Staatslehre in die jüdisch-christliche Gemeinde übertragen. Ekklesia, das war die Versammlung der freien Bürger  der Stadt, die durch einen Herold aus ihren Häusern hinaus zur Versammlung gerufen wurden. Gott ruft die Glieder seiner Gemeinde heraus aus ihrer Alltagswelt zur Gemeinschaft im Namen Jesu Christi.

Umgekehrt bedeutet das, was Paulus uns hier sagt: Kirche ist kein Verein.  Das ist kein Zusammenschluss mehr oder weniger Frommer, die sich aus eigenem Antrieb entschließen, als Gleichgesinnte zur Pflege der Religion, der Sitte oder der Frömmigkeit zusammenzukommen. Und die dann genauso gut auch wieder auseinandergehen könnten, weil die anderen nicht religiös, sittlich oder fromm genug sind, um dann mit anderen, frömmeren einen neuen Verein zu gründen. Kirche ist die Gemeinschaft derer, die von Gott in und zu Jesus Christus berufen sind. Und solange jemand – Lippenbekenntnis! – das von sich sagt, dass er sich als zu Jesus Christus gehörig versteht, solange hat kein anderer Christ das Recht, ihm die Zugehörigkeit abzusprechen. Über die Zugehörigkeit zur Gemeinde Jesu Christi entscheidet allein Gott, nicht die anderen Christen.

Natürlich dürfen und sollen Christen andere Christen, deren Reden, Verhalten oder Überzeugungen ihnen nicht ganz zur Botschaft Christi zu passen scheint, fragen, wie sie das denn zur Übereinstimmung bekommen, ihre Position und das Evangelium. Aber niemals können Menschen im letzten darüber entscheiden, wer zur Gemeinde Jesu Christi gehört und wer nicht. Das ist und bleibt - gottseidank! - Gottes Kompetenz.

Wir erleben, liebe Gemeinde, aktuell gerade heftige Diskussionen in Teilen der österreichischen Kirche. Nachdem auf ein Urteil des Verfassungsgerichts hin die Politik gezwungen war, die standesamtliche Ehe für alle, also auch homosexuelle und lesbische Paare zu öffnen, ist die Kirche gezwungen zu entscheiden, wie sie es mit der kirchlichen Trauung halten will. Bislang konnte sie sich dahinter verstecken, dass die klassische Ehe nur Mann und Frau offenstand. Da musste man nichts entscheiden. Gleichgeschlechtliche Paare konnten ihren Bund segnen lassen, aber es gab keine regelrechte Trauung. Die Gleichstellung heterosexueller und homosexueller Paare im politisch-sozialen Raum wirft nun die Frage auf nach der Gleichstellung im kirchlichen Raum.

Kirche muss diese Frage nicht genauso beantworten wie die Politik. Die katholische Kirche wird das sicher nicht tun, die duckt sich noch weg unter Verweis auf ihr Sakramentsverständnis. Aber die evangelische Kirche muss das zumindest diskutieren. Für uns ist die Trauung schon lange kein Sakrament und schon gar keine rechtsverbindliche Institution mehr, sondern eine dem rechtsverbindlichen staatlichen Akt folgende Segenshandlung. In meinem Verständnis jedenfalls wird da keine übernatürliche Weihe auf eine vorhandene Ehe gelegt, sondern Gott wird um seinen Beistand für diese auf Gegenseitigkeit, Dauer und gegenseitige Zuwendung angelegte Gemeinschaft gebeten. Warum sollen nicht auch gleichgeschlechtliche Paare um diesen Segen bitten dürfen?

Aber nun ist es so, dass das nicht das einzige Verständnis in unserer Kirche ist. Es gibt Gruppen und Gemeinden, die aus einem sehr viel engeren und wörtlicheren Bibelverständnis heraus diese Entwicklung nicht mittragen zu können glauben. Die glauben, gleichgeschlechtliche Liebe stünde unter Gottes Verbot, und die Kirche dürfe nicht so tun, als sei das anders, indem sie für gleichgeschlechtliche um den Segen Gottes bittet.
Und es steht die Drohung im Raum, dass sich diesen Gemeinden abzuspalten, sollte die Trauung für alle in der Evangelischen Kirche zu Regelung werden.

Wie gesagt, es wird noch diskutiert, und Sie alle hier und die ganze Gemeinde sind eingeladen, am kommenden Sonntag in dieser Gemeinde über diese Frage zu diskutieren.

Ich glaube jedenfalls nicht, dass Segen liegt auf einer Abspaltung der Gemeinden, die gegen die Trauung für alle in der Evangelischen Kirche sind. Man wird sie im Ernstfall nicht abhalten können, aber das wird auch für diese Gemeinden kein guter Weg sein. Wenn ich gerade den Korintherbrief richtig verstehe, dann sagt Paulus über diesen ganzen Brief hinweg nichts anderes als: Gemeinden sind keine perfekten Gebilde. Die Gemeinde ist oft alles voller Fehler und Irrtümer in Lehre und Verhalten. Und überhaupt kann man über den Zustand der Kirche Jesu Christi oft genug in schiere Verzweiflung geraten. Und Paulus hat über wesentlich grundlegendere Fragen des christlichen Glaubens mit den Korinthern streiten müssen als so ein relativ randständiges Problem wie die Ehe für Alle.

Aber das entscheidet alles nicht über ihre Existenzberechtigung und ihre Zukunftsfähigkeit. Die Existenzberechtigung und die Zukunftsfähigkeit der Kirche hängen allein an Gott.

Und da denke ich immer: Wir brauchen nicht so sorgenvoll und verzagt in die Zukunft zu blicken. Gott hat seine Kirche durch wesentliche härtere Zeiten gebracht und nicht untergehen lassen. Er wird auch uns bewahren, solange wir auch nur von Ferne an das erinnern, uns und die Betrachter von außen, wozu Gott uns berufen hat:
Zur Gemeinschaft mit Jesus Christus, zur Gemeinde, in der mit den Lippen das Wort Gottes bekannt und mit den Lippen die Gemeinschaft des Blutes Christi gehalten wird, bis dass er kommt, und zu der Gemeinde, in der dann nach Möglichkeit auch noch danach gehandelt wird.

Aber über allem steht die große Klammer der Liebe Gottes in Jesus Christus: nicht unsere eigene Frömmigkeit und auch nicht unsere persönliche Glaubens- und Bekenntnisleistung wird über unsere Zukunft entscheiden, sondern allein Gott in seiner großen Güte. Und da können wir doch nur gottfroh sein!

Amen

11.11.2018: Am drittletzten Sonntag des Kirchenjahres - Predigt zur Heiligen Elisabeth von Thüringen im Rahmen der Predigtreihe "Heilige. Evangelisch buchstabiert" von Lektorin Dr. Katja Eichler

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen.

Die Heilige Elisabeth gilt als populärste Heilige des Spätmittelalters und ist auch heute noch eine bedeutende Gestalt der Frömmigkeit und der tätigen Nächstenliebe in vielen Konfessionen.

Über die ungarische Königstochter ist schon im Mittelalter ungewöhnlich viel geschrieben worden. Elisabeth wird 1207, vermutlich Anfang Juli, auf der Burg Sáros Patak im Norden Ungarns als Tochter des Ungarnkönigs Andreas II. und dessen Ehefrau Gertrud von Andechs-Meran geboren. Bereits 1211, also mit nur 4 Jahren, wird Elisabeth aus politischen Gründen mit Ludwig, dem Sohn des Landgrafen Hermann I. von Thüringen verlobt. Noch im selben Jahr verlässt sie ihr Elternhaus für immer.

Ziel dieser ersten und einzigen größeren Reise ihres Lebens ist die Wartburg bei Eisenach, wo sich die Landgräfin Sophie von Bayern, die Mutter Ludwigs, auch ihrer Erziehung annimmt. Elisabeth wird in den Quellen als aufgewecktes, herum tollendes und sich ihres Lebens freuendes Kind beschrieben.

1221 wird die Vierzehnjährige mit Ludwig, der schon seit vier Jahren anstelle seines verstorbenen Vaters Landgraf ist, in der Eisenacher Georgenkirche vermählt. Die erhaltenen Quellen legen nahe, dass die Ehe äußerst harmonisch verlief und beiderseits auf echter herzlicher Zuneigung beruhte. Drei Kinder bekommen die Eheleute, den Sohn Hermann und die Töchter Sophie und Gertrud.

Als Landgräfin nutzt Elisabeth ihre Position, um die Not und den Hunger der Armen zu bekämpfen. Beeinflusst wird sie dabei von den Franziskaner. Der Orden war zu ihrer Zeit sehr karitativ tätig. Elisabeth überlässt den Minderbrüdern eine Kirche in Eisenach und wählt den Laienbruder Rodeger als ihren geistlichen Berater. Sie setzt das franziskanische Ideal einer radikalen Christusnachfolge in Selbsterniedrigung, Buße, Armut und Armenfürsorge um. Während des Hungerjahres 1226 versucht sie, die ärgste Not zu lindern, indem sie Korn aus dem landgräflichen Vorrat verteilen ließ, und treibt den Bau eines von Franziskanerbrüdern betreuten Siechenhauses voran. Sie pflegt dabei selbst Arme und Kranke in einfachster Kleider ohne jeglichen Schmuck. Aufsehen und Abstoßen erregt sie besonders beim Adel, so berichten die Quellen, als sie an einem Gründonnerstag die Leprakranken um sich versammelt, ihnen die Füße wäscht und ihre Geschwüre küsst.

Beeinflusst wurde sie auch von dem aufkommenden Beginenwesen. Ziel dieser Bewegung war die Verwirklichung eines Lebens in der Nachfolge Christi. Frauen schlossen sich seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts ungeachtet ihres Vermögens oder Standes zu geistlichen Gemeinschaften zusammen. Als Beginen verzichteten sie auf persönlichen Besitz, lebten in Hausgemeinschaften und stellten ihren Unterhalt weitgehend durch Handarbeit sicher. Sie widmeten sich neben dem Gebet auch Werken der tätigen Nächstenliebe, etwa der Krankenpflege, der Betreuung Verlassener, der Seelsorge und der Erziehung.

Elisabeth wollte ihr Leben als Fürstin zu Gunsten strenger Askese nicht aufgeben, sondern als Fürstin ein christliches Leben führen. Ihr Mann Ludwig hatte Verständnis für ihre spirituellen Bedürfnisse und nimmt sie gegen alle Vorwürfe in Schutz.

Kurz nach der Hochzeit holt Ludwig den Priester Konrad von Marburg auf die Wartburg, der Elisabeths Beichtvater und später ihr Vormund wird. 1226 gelobt sie ihm absoluten Gehorsam und den Verzicht auf eine erneute Ehe für den Fall, dass Ludwig vorzeitig stirbt. Sechs Jahre nach der Eheschließung ist dies der Fall, Ludwig stirbt, vermutlich an Malaria, in Süditalien. Er hatte Kaiser Friedrich II. zugesagt, sich am Kreuzzug zu beteiligen und das Heilige Land und Jerusalem von den „Ungläubigen“ zu befreien.

Zeitgenössische Quellen berichten, dass Ludwigs Tod den Lebensmut Elisabeths bricht. Damit endet Elisabeths Zeit als Landgräfin, immer wieder soll sie ausgerufen haben: „Wenn nun mein Bruder gestorben ist, so ist auch für mich die Welt gestorben.“

Durch den Tod Ludwigs ändern sich die Machtverhältnisse. Ludwigs jüngerer Bruder Heinrich Raspe IV. übernimmt die Regentschaft und entzieht Elisabeth die Witwengüter. Als sie im Winter mit ihren Kindern die Wartburg verlässt, kann sie von ihren einstigen Untertanen keine Unterstützung erwarten, da der neue Landgraf jedem, der ihr beisteht, harte Strafen androht.

Nach dem Entzug der Witwengüter wird Konrad von Marburg zum Beschützer Elisabeths durch den Papst bestellt. Durch seinem Einsatz muss ihr der Schwager schließlich doch eine hohe finanzielle Abfindung bewilligen und dem Bau eines Hospitals in Marburg zustimmen. Konrad ist ein strenger, auch fragwürdiger Zuchtmeister. Er hält Elisabeth zu strengen Bußübungen an, denen er durch Prügel und Geißelungen zur Abtötung weltlicher Begierden nachhilft. Allerdings soll er sie auch von allzu starker Geißelung abgehalten haben.

Mit dem Umzug nach Marburg schneidet Elisabeth ihre letzten weltlichen Bindungen ab. Sie gibt die Vormundschaft über ihre Kinder auf, tritt im Winter 1228 als soror in seculo (als Schwester ohne feste Ordensbindung) dem Dritten Orden bei und erneuert vor Konrad das Gelübde der Armut und Weltentsagung. Damit verzichtet die einstige Fürstin endgültig auf die Privilegien ihres Standes und allen eigenen weltlichen Besitz.

Diese Vorgänge schildert folgender Brief, den Konrads von Marburg, nach ihrem Tod an Papst Gregor IX. schreibt und der die Summa vitae der Elisabeth von Thüringen enthält:

"Und am Karfreitag, als die Altäre entblößt waren, legte sie ihre Hände auf den Altar in einer Kapelle ihrer Stadt, wo sie Minderbrüder angesiedelt hatte, und im Beisein einiger Brüder entsagte sie Eltern, Kindern, dem eigenen Willen, allem Prunk der Welt und dem, was der Erlöser der Welt im Evangelium zu verlassen rät. Aber als sie auf ihre Besitzungen verzichten wollte, zog ich sie zurück sowohl wegen Bezahlung der Schulden ihres Gemahls als auch wegen der Armen, die, wie ich es wollte, aus dem, was ihr als Wittum gehörte, unterstützt werden sollten. […] Über diese Werke eines tätigen Lebens hinaus erkläre ich vor Gott, dass ich selten eine Frau gesehen habe, die so innig in Gedanken an Gott versunken war; denn einige fromme Frauen und Männer sahen öfter, wenn sie von der Stille des Gebetes kam, ihr Antlitz wunderbar leuchten und gleichsam Strahlen der Sonne aus ihren Augen hervorbrechen. Wenn sie aber, was häufiger geschah, einige Stunden lang in Verzückung hingerissen wurde, nahm sie danach sehr lange keine oder nur mäßige Speise zu sich."

Während der folgenden drei Jahre ist Elisabeth in Marburg unermüdlich im Dienst der Armen tätig und nimmt sich besonders den Leprakranken an. Sie wandelt sich zur Mystikerin. Sie erlebt Visionen, geißelt sich und fastet. Frömmigkeit, diakonisches Handeln und selbstzerstörerische Buße zeichnen die letzten Lebensjahre aus. Mit nur 24 Jahren stirbt Elisabeth am 17. November 1231. Im deutschen Sprachraum wird ihr am 19. November, dem Tag ihrer Beerdigung gedacht.

Nur vier Jahre nach ihrem Tod wird sie von Papst Gregor IX. in Perugia heiliggesprochen. Sowohl Konrad von Marburg, als auch ihre Familie bemühen sich sehr darum. Eine Heilige in den eigenen Reihen vorweisen zu können, damit wächst das Ansehen der Landgrafen in Thüringen. Es entwickelt sich gleich nach ihrem Tod ein ungebrochener Reliquienkult, Haare, Fingernägel, sogar die Brustwarzen und auch das Leichentuch der Elisabeth wurde abgeschnitten, um es als Reliquie aufbewahren zu können. 1539 ließ der Landgraf Philipp von Hessen die Elisabeth-Reliquien entfernen, um den Andrang der Pilger einzudämmen, die Wallfahrten nach Marburg zu ihrem Grab unternahmen.

Erhalten bleiben die Schädel- und Beinreliquien, die sich seit 1782 (nach dem Toleranzpatent Josephs II. und der damit verbundenen Auflösung von Klöstern ohne karitativen Zweck) in der Klausur des Elisabethinenklosters hier in Wien in der Landstraßer Hauptstraße befinden, wo sie immer am 19. November zu sehen sind.

Die schnelle Heiligsprechung und die Pilgerströme wurden auch durch die legendarischen Wunderberichte gestützt, die nach Elisabeths Tod entstanden. Das wohl bekannteste Wunder ist das Rosenwunder: Elisabeth, auf dem Weg von der Wartburg in die Stadt zu den Armen, soll von ihrem Mann oder ihrem Schwager aufgehalten worden sein, der sie streng anspricht, was sie in ihrem Korb hat und sie auffordert die Decke wegzunehmen, mit der der Korb bedeckt ist. Elisabeth folgt der Aufforderung, doch anstatt des Brotes, das sie den Armen bringen wollte, sind im Korb nur Rosen zu sehen, so dass sie einer Bestrafung entgeht.

Wunder – Reliquien – Verehrung – Anbetung der Heiligen um dem Fegefeuer zu entgehen – alle diese Dinge sind Martin Luther suspekt. Er beklagt, dass die Menschen, sich auf die Fürbitte der Heiligen verlassen, anstatt selbst Buße für ihre Sünden zu tun und auf die Vergebung Gottes zu hoffen. Grundsätzlich lehnt er die Heiligenverehrung nicht ab, solange nicht das untadelige Leben des Heiligen betont wird, sondern herausgestellt wird, dass auch sie als Sünder exemplarisch die Gnade Gottes an sich erfahren. Daher sind Wallfahrten, Verehrung von Reliquien nicht notwendig, sondern können sogar schädlich sein, von Luther werden sie als Aberglauben eingestuft.

In unserem Augsburger Bekenntnis ist im Artikel 21 dazu folgendes zu lesen: „Vom Heiligendienst wird von den Unseren so gelehrt, dass man der Heiligen gedenken soll, damit wir unseren Glauben stärken, wenn wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren und auch wie ihnen durch den Glauben geholfen worden ist; außerdem soll man sich an ihren guten Werken ein Beispiel nehmen, ein jeder in seinem Beruf. Aus der Hl. Schrift kann man aber nicht beweisen, dass man die Heiligen anrufen oder Hilfe bei ihnen suchen soll. "Denn es ist nur ein einziger Versöhner und Mittler gesetzt zwischen Gott und den Menschen, Jesus Christus." (1. Tim 2,5)“

Trotzdem genoss Elisabeth von Thüringen besondere Hochachtung bei Luther. Er besaß sogar einen Elisabethbecher, den er nach dem Tod Friedrichs des Weisen und dem Auflösen des Wittenberger Heiltumsschatzes erhielt. Er stellte ihn aber nicht auf einen besonderen Ort, sondern er trank daraus, und auch nicht das Fastengetränk Wasser, sondern das von seiner Frau gebraute Bier. Damit führte er den Becher wieder als Alltagsgegenstand ein, dem keine Verehrung zuteilwerden musste. Heilige spielen keine vorrangige Rolle, alle, die wir an Jesus Christus glauben, wir alle bilden die Gemeinschaft der Heiligen. Nicht das Handeln macht den Heiligen, sondern die Glaubensmotivation, die zu diesem Handeln führt. Gemäß des Augsburger Bekenntnisses gilt es für die Zeugen des Glaubens, als die Heilige gelten, Gott zu danken und von ihnen durch kritische Auseinandersetzung zu lernen.

Was also können wir von Elisabeth von Thüringen lernen, jenseits der Wunder und der Reliquienverehrung? Elisabeth war ein Kind ihrer Zeit, sie begab sich immer in die Abhängigkeit von Männern, erst war sie der Familie ihres Mannes, dann ihrem Mann und dann Konrad von Marburg unterstellt. Doch gerade diese letzte Abhängigkeit wählte sie selbst. Neue Eheschließungen, auch das Angebot der Ehe mit dem Kaiser Friedrich II. lehnte sie ab. Ihre Entscheidungen traf sie für den gesamten Bereich ihres Lebens, sie verschrieb sich ganz und gar der Armenfürsorge. Damit steckte sie auch andere Frauen in ihrer Umgebung an. Sie blieb auch bei ihren Entscheidungen, auch wenn sie verlacht, verhöhnt, als verrückt angesehen wurde. An ihrem Glauben hielt sie ein Leben lang fest, auch schwere Schicksalsschläge entfernten sie nicht von Gott. Ihrem sich selbst gestecktem Ziel blieb sie unnachgiebig treu. In dieser Gewissheit des Glaubens und dem daraus entstehenden Handeln kann sie uns auch heute ein Vorbild sein. 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der be-wahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen.

14.10.2018: 20. Sonntag nach Trinitatis - Predigt zu 1. Kor 7, 29-31 von Lektorin Dr. Astrid Zinnecker-Rönnchen

29 Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Auch sollen die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine;

30 und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht;

31 und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.

Liebe Gemeinde,

vor kurzem habe ich eine Frau kennengelernt, etwa mein Alter. Wegen Rückenschmerzen war sie vor  Monaten zum Arzt gegangen, dann waren seltsame Strukturen im MRT aufgetaucht, und dann hatte sie auf die Diagnose gewartet. Und am Tag, bevor die Diagnose kam, sagte ihre Tochter ihr, dass sie schwanger sei und sie, die Mutter, nun Großmutter würde. „Meine Tochter bekommt ein Kind, und ich muss gehen“ – das war ihr spontaner Gedanke. Ein schrecklicher Gedanke. Ein Gedanke, der sich gerade bewahrheitet. Sie wird gehen müssen, ehe das Kind zur Welt gekommen sein wird.

Die Zeit ist kurz. Zeit hat ein Ende. Meine Zeit ist begrenzt, egal ob ich es wahrhaben will oder nicht. Unser aller Zeit ist begrenzt, und von manchem unter uns ist die Zeit nur noch kurz.

Die Zeit ist kurz, sagt Paulus. Er sagt, genaugenommen: die Zeit ist zusammengedrängt. Leben und Sterben, Freude und Leid, Hoffnung und Verzweiflung – das ist alles jetzt. Das ist alles zugleich, und es ist JETZT. Was kann man da tun? Was ist da sinnvoll?

Sollen wir so tun, als wär’s nicht wahr? Als lebten wir potentiell ewig? Wir tun das gerne. Wir schieben es raus aus unserem Bewusstsein, aus unseren Handlungsorientierungen, und halten uns an den täglichen Dingen fest.

Wir haben es uns hier eingerichtet in der Welt. Aufstehen, arbeiten gehen, einkaufen, essen, fernsehen, schlafen. Die täglichen Besorgungen. Das Wort kommt nicht zufällig von ‚sorgen‘. Wir müssen uns um zahllose Dinge kümmern und dafür sorgen, dass das Leben läuft: Die Mahlzeiten, die Stromrechnung, die Hausversicherung, den warmen Wintermantel und das Geburtstagsgeschenk für den Freund. Den Hund zum Tierarzt, die Kinder zur Schule, das Auto zur Inspektion bringen. Sport für die Fitness machen und den nächsten Urlaub buchen. Damit füllen wir mühelos die 24 Stunden des Tages: Der Trost der Alltäglichkeit.

In all dem versuchen wir, unserm Leben einen Sinn zu geben. Wir verlieben uns, wir binden uns, wir gründen Familien. Wer es sich leisten kann, kauft eine Wohnung oder baut ein Haus. Legt einen Garten an, pflanzt Bäume. Wir schaffen uns einen eigenen Raum: zum Wurzeln für die Kinder, einen stabilen, sicheren Rahmen. Wir werden Eltern, oder zumindest Onkel und Tanten, und eines Tages dann Großeltern, Großonkel und Großtanten: wir halten die Verbindung zum nachgeborenen Leben aufrecht. Die Kinder sind unsere Zukunft. Eingebettet zu sein in eine Familiengeschichte, in eine Genealogie, das macht auf fraglose Weise Sinn. Mag manches im Leben unsicher sein und nicht in unserer Gewalt zu stehen scheinen, die Liebesbeziehung, die Familie, die daraus erwächst, das ist ein überschaubarer Kosmos, das müsste machbar sein, das sinnvoll und sinngebend zu gestalten. Viele Menschen sagen, das sei das Wichtigste in ihrem Leben, die Familie, die Kinder. Für viele Menschen funktioniert das, zumindest über eine beachtliche Zeit ihres Lebens.

Das erfüllt dann ein Leben. Da scheint es zu gelingen, das Leben. Das scheint sie zu sein, die gute Schöpfungsordnung Gottes. „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ (Gen 8,22)

Das läuft ja auch  einigermaßen. Nicht immer reibungslos. Untreue Ehepartner, Kinder, die nicht funktionieren, Arbeitskollegen, die einen fertigmachen, stören das Gelingen des eigenen Lebens. Oder man ist selber untreuer Partner, erfolgloses Kind, mobbender Arbeitskollege. Aber dafür gibt es Hilfen, Methoden, erprobte Weisen des Umgangs. Sogar christlich geprägte Hilfen und Weisen des Umgangs gibt es, die oft von tiefer Weltweisheit zeugen.

Nein, bei der Suche nach dem gelingenden Leben, nach dem Leben in der guten Schöpfungsordnung Gottes bewegen wir uns auf vertrautem Terrain. Das ist die Welt, die wir kennen, und wir wissen, wie wir mit ihr umgehen müssen.

Und es sei jedem gegönnt, dem es vergönnt ist, ein gelingendes Leben zu führen.

Sie hatte sich ein schönes Leben aufgebaut, die Frau. Nach einer schrecklichen Ehe, an deren Ende sie ein seelisches Wrack gewesen war, hatte sie sich mühsam, aber erfolgreich aus dem seelischen Tief herausgearbeitet. Hatte ihre Praxis als Ärztin geführt, ihre Kinder großgezogen und, vor allem, ihr eigenes Paradies geschaffen, einen eigenen Hof für sich und ihre Töchter, für ihre und ander Leute Pferde. Alles in einem hervorragenden Zustand, ein wunderbarer, sehr großzügig angelegter Ort mitten in der Natur, mit viel Raum für Pferde, Hunde, Menschen. Jeder Balken, jeder Nagel klug durchdacht angebracht. Jeder Zentimeter so liebevoll gestaltet wie das eigene Wohnzimmer. Hier ist sie wirklich zu Hause, hier lebt sie auf. Das ist ihr gelungen.

Ich bin sehr beeindruckt von diesem Stall. Nicht nur, weil ich viele Ställe kenne, die sich damit in keiner Weise vergleichen können. Sondern weil zu fühlen ist: Hier hat jemand all seine Liebe, all seine Kreativität und Fürsorge darein gesteckt, diese Oase zu schaffen, ein Refugium, einen Ort, an dem viele Lebewesen sich miteinander beheimatet fühlen können.

Umso schrecklicher, dass dieses Refugium ihr keine Sicherheit mehr bietet und ihre Kräfte nicht mehr ausreichen, an  diesem Ort selber Kraft zu tanken oder auch nur friedlich zu sterben. Das ist grausam, und es tut weh, das anzusehen. Die Zeit ist kurz. Ihre Zeit war definitiv zu kurz. Das finde ich unendlich traurig.

Liebe Gemeinde, gelingendes Leben hat Paulus gar nicht auf dem Schirm. Das ist nicht seine Horizont, nicht sein Glaube, nicht sein oberstes Ziel und nicht seine Botschaft.  
Seine Botschaft ist: Die Zeit ist kurz. Das Wesen dieser Welt vergeht. Ihr könnt euch Häuser bauen, Familien gründen, Karrieren verfolgen, Versicherungen abschließen und Rücklagen bilden, soviel ihr wollt. Das Wesen der Welt vergeht, und ihr setzt damit aufs falsche Pferd. Das ist nicht klug.

Klug, sagt Paulus, klug ist: Wenn die, die Frauen haben, sind, als hätten sie keine. Und wenn die, die weinen, sind, als weinten sie nicht, und die, die sich freuen, als freuten sie sich nicht, und die, die kaufen, als behielten sie es nicht. Und die die Welt gebrauchen, als gebrauchten sie sie nicht.

Paulus ist in Endzeit-Stimmung. Er erwartet die baldige Wiederkehr des Christus. Die letzte Wiederkehr Jesu zur Endabrechnung mit der Welt. Zur endgültigen Durchsetzung des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit auf Erden.

Wer kühl rechnet, muss sagen: Paulus hat sich verkalkuliert. Keinen baldige Wiederkunft des Herrn. Wir warten seit fast 2000 Jahren drauf.

Und eigentlich warten wir auch gar nicht mehr darauf. Bis auf ein paar Spinner haben wir Christen es aufgegeben, auf das Ende der uns bekannten Welt zu warten. Das Wesen der Welt vergeht? Wer glaubt das denn wirklich? Die Umwelt- und Klimaaktivisten natürlich schon, aber aus ganz anderen Gründen. Sie haben recht, sich Sorgen zu machen, aber das ist ein anderes Thema.
Dass Gott eingreift in diese Welt und ihren mehr oder weniger gottlosen Abläufen ein Ende bereiten wird, das glauben wir doch nicht wirklich. „Von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten?“ – das ist uns doch längst zur Floskel geronnen.

Doch Paulus sagt nicht von ungefähr: Das Wesen der Welt vergeht. Er ist kein Kulturpessimist und kein Weltuntergangsprediger. Er sagt es, weil er es erfahren hat: Dass die vertraute Zeit und ihre alltäglichen Abläufe – Saat und Ernte, Frost und Hitze, Tag und Nacht, Sommer und Winter – vom Einbruch einer ganz anderen Zeitrechnung unterbrochen und außer Kraft gesetzt werden:
Der Christus ist gekommen und hat sie außer Kraft gesetzt. Der Christus hat die ewige Gültigkeit der Gesetze  von Tod und Leben außer Kraft gesetzt. Und damit auch das, was wir unter ‚Leben‘ verstehen. Leben ist nicht hier, Leben ist nicht so, Leben ist nicht dies, - Leben ist ein anderes, zukünftiges.

Leben ist das Sein aus dem Tod. Leben heißt: durch den Tod hindurch gerettet sein. Es ist die Aufhebung und Infragestellung all dessen, womit wir unser Leben zu sichern und mit Sinn auszustatten versuchen. Wirklich leben heißt: durch den Tod hindurchgehen und ihn dann hinter sich lassen, weil Gott uns in ihm entgegenkommt. So wie Christus durch den Tod hindurchgehen musste, von Gott auferweckt wurde und den Tod so hinter sich ließ.

Beides übrigens aus Liebe: Christus ist den Weg ans Kreuz und in den Tod gegangen aus Liebe, und Gott hat ihn auferweckt aus Liebe. Aus Liebe zu uns Menschen. Von der Liebe Gottes reden und sie den Menschen zeigen und beweisen, ist Jesu Botschaft bis zum letzten Atemzug.

Es geht im Kreuz nicht um Leben oder Tod allein. Es geht in all dem und über all dem und durch all das hindurch um Liebe. Das Wesen der Welt vergeht, die Liebe bleibt.
Nicht das, was wir so ‚Liebe‘ nennen, und was eigentlich oft eher ein Einverleiben eines anderen Lebewesens ist, Inbesitznahme, Beanspruchung. Das kann auch für die Beziehung von Paaren zutreffen. Dass man sich nicht liebt, sondern nur benutzt als Stabilisator des eigenen Lebens.
Die Liebe, die von Gott her kommt, hat einen anderen Charakter, sie ist ein selbstloses und wehrloses Sich-Verströmen, Sich-Hingeben. Und vielleicht ist es ja das, was Paulus damit meint: Haben als hätte man nicht. Geben und nehmen, ohne besitzen und sichern zu wollen. Ohne Berechnung und ohne Warten auf Ausgleich sich verschenken und empfangen.

Liebe Gemeinde, durch den Tod hindurch geht jeder von uns irgendwann einmal. Und haben, als hätte man nicht, das ist da einfach eine weise Einstellung. Denn keiner von uns kann dabei mitnehmen, was ihm hier Halt und Bedeutung gibt. Nicht den Besitz, nicht die Wohnstatt, nicht die Heimat, nicht die Karriere, nicht einmal die liebsten Menschen, nicht die Frau, den Mann, das Kind.  Das letzte Hemd hat keine Taschen. Den letzten Gang gehen wir nackt und allein.
Gott begegnen wir im Tod nackt und allein, mit nichts dabei als unserer wahren Menschlichkeit.

Unsere wahre Menschlichkeit: Mit all dem Elend und all dem Leid, das wir mitschleppen und das sich in unser Fleisch gebrannt und unsere Seele geschrieben hat. Mit all der Freude, die wir erfahren, und all der Dankbarkeit, die wir verspürt, und all der Liebe, die wir verschenkt haben.

Das Wesen der Welt vergeht, unsere Zeit ist kurz. Am Ende ist sie zusammengedrängt auf das wirklich Wichtige, das wirklich Gottgegebene: auf das wahrhaft Menschliche.  Am Ende ist nicht das von Bedeutung, was wir hier aufgebaut und uns erworben haben. Am Ende ist nicht von Bedeutung, ob uns das Leben gelungen ist oder ob es ein Fragment geblieben ist. Die Güte unseres Lebens hängt nicht daran, dass wir es schaffen, ihm Sinn und Inhalt zu verleihen. Die Güte unseres Lebens hängt nicht an seinem Gelingen.
Die Güte unseres Lebens hängt an Gottes Zuwendung und Liebe durch den Tod hindurch.

Und deshalb, liebe Gemeinde, könnten wir eigentlich lässig darauf verzichten, unserem Leben zwanghaft einen Sinn und einen Inhalt geben zu wollen. Wir könnten lässig darauf verzichten, unsere Energie in das Gelingen unseres Lebens zu stecken. Wir könnten uns stattdessen einfach beschenken lassen mit der Liebe Gottes.

Ich sag’s im Konjunktiv, in der Möglichkeitsform. Denn natürlich ist genau das die Schwierigkeit: Wir könnten, aber wir schaffen es oft nicht. Wir haben die Liebe Gottes, aber wir leben, als hätten wir sie nicht. Vielleicht ist ja das der eine, feine Unterschied zwischen uns und Paulus: Dass er durchdrungen war von der Liebe Gottes und Christi. Paulus hatte die Liebe Gottes. Wir kämpfen uns durch die Niederungen der Lieblosigkeit, als hätten wir die Liebe Gottes nicht, und suchen dafür Halt an Dingen und Ideen und Konzepten, die uns nicht durch den Tod hindurchhelfen.

Liebe Gemeinde, hat Paulus sich verrechnet mit seiner Endzeitstimmung? Ist das alles Schnee von gestern? Ich glaube es nicht.

Ich glaube, andersherum wird ein Schuh draus: Das Leben ist kurz, die Zeit ist kurz, und jeder Tag, der uns bleibt, ist ein Geschenk. Jeder Tag, der uns im Leben bleibt, Gottes Liebe zu spüren und weiterzugeben, jeder Tag, der uns bleibt, uns im Lieben zu üben, ist ein Geschenk der Gnade Gottes. Mag die Welt sich ewig weiterdrehen, mag sie irgendwann untergehen, mag das Reich Gottes sich doch noch durchsetzen:

Das Gelingen unseres Lebens ist Gott nicht wichtig. Dass wir uns mit seiner Liebe beschenken lassen in unserem Gelingen wie in unserem Scheitern, das ist Gott wichtig. Unser Leben darf misslingen, es darf  Fragment bleiben. Gottes Liebe empfangen und, wenn es gelingt, weitergeben, das ist wichtig. Lieben üben. Dafür ist uns die Zeit geschenkt. Machen wir was draus!

26.08.2018: 13.Sonntag nach Trinitatis – Predigt zu Gen 4,1-16 von Lektorin Dr. Astrid Zinnecker-Rönchen

Es gibt Geschichten, die sind so alt wie die Menschheit, und doch immer wieder aktuell. Auch im ersten Buch der Bibel werden solche Geschichten erzählt, und sie sind noch so brisant wie damals.

1. Und der Mensch erkannte Eva, seine Frau, und sie wurde schwanger und gebar Kain, und sie sprach: Ich habe einen Sohn bekommen mit Hilfe des HERRN.

2. Und sie gebar wieder, Abel, seinen Bruder. Abel wurde Schafhirt, und Kain wurde Ackerbauer.

3. Nach geraumer Zeit aber brachte Kain dem HERRN von den Früchten des Ackers ein Opfer dar.

4. Und auch Abel brachte ein Opfer dar von den Erstlingen seiner Schafe und von ihrem Fett. Und der HERR sah auf Abel und sein Opfer,

5. aber auf Kain und sein Opfer sah er nicht. Da wurde Kain sehr zornig, und sein Blick senkte sich.

6. Der HERR aber sprach zu Kain: Warum bist du zornig, und warum ist dein Blick gesenkt?

7. Ist es nicht so: Wenn du gut handelst, kannst du frei aufblicken. Wenn du aber nicht gut handelst, lauert die Sünde an der Tür, und nach dir steht ihre Begier, du aber sollst Herr werden über sie.

8. Darauf redete Kain mit seinem Bruder Abel. Und als sie auf dem Feld waren, erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.

9. Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiss es nicht. Bin ich denn der Hüter meines Bruders?

10. Er aber sprach: Was hast du getan! Horch, das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden.

11. Und nun - verflucht bist du, verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen.

12. Wenn du den Ackerboden bebaust, soll er dir fortan keinen Ertrag mehr geben. Rastlos und heimatlos sollst du auf Erden sein.

13. Da sprach Kain zum HERRN: Meine Strafe ist zu gross, als dass ich sie tragen könnte.

14. Sieh, du hast mich heute vom Ackerboden vertrieben, und vor dir muss ich mich verbergen. Rastlos und heimatlos muss ich sein auf Erden, und jeder, der mich trifft, kann mich erschlagen.

15. Der HERR aber sprach zu ihm: Fürwahr, wer immer Kain erschlägt, soll siebenfach der Rache verfallen. Und der HERR versah Kain mit einem Zeichen, damit ihn nicht erschlage, wer auf ihn träfe.

16. So ging Kain weg vom HERRN, und er liess sich nieder im Lande Nod, jenseits von Eden.

Liebe Gemeinde!

Ich muss Ihnen etwas gestehen: Es gibt wenige Geschichten in der Bibel, die mich so ärgern wie diese.

Die ganze Geschichte ist dramaturgisch doch von Anfang an verhunzt! Die Beteiligten sagen das Richtige zur falschen Zeit, oder sie kriegen den Mund nicht auf, wenn es Zeit zu reden wäre. Sie sehen zur richtigen Zeit nicht hin oder blicken zur falschen Zeit weg. Gott handelt ungerecht, interveniert anschließend kontraproduktiv, dann guckt er nicht mehr hin, und später ist es zu spät. Jeder einschließlich Gott sieht eigentlich nur seine eigenen Bedürfnisse, und am Ende ist einer tot. Glücklich wird so keiner.

So etwas klingt eigentlich nicht nach Evangelium, das klingt nach einem Drehbuch wie für ‚Inspektor Barnaby‘. Oder von mir aus nach ‚Tatort‘.

Schauen wir uns die Geschichte also mal an wie ein Fernsehkritiker: Da sind Kain, der Ackerbauer, und sein jüngerer Bruder Abel, der Hirte. Beide opfern Gott vom Ertrag ihrer Arbeit, was denn sonst?

Gott aber ist offenkundig kein Vegetarier. Das Opfer des Ackerbauers Kain goutiert er nicht so wie das des Hirten Abel. Er bevorzugt den jüngeren Bruder vor dem älteren.
Das ist kein feiner Zug von ihm, und göttliche Klugheit sähe anders aus.

Ich bin selber eine ältere Schwester, ich kenne das Lied. Und es ärgert mich über alle Maßen, heute noch. All diese Sätze wie: „Ach, wie süß, die herzige Kleine“. „Komm, Du bist doch schon groß und vernünftig, nun gib ihr doch das Spielzeug.“ „Wirst du wohl aufhören, deine kleine Schwester zu piesacken!“ Wer wen zuerst gepiesackt hat, wurde gar nicht mehr gefragt.
Und das ‚Ätschi Bätschi‘ der kleinen Schwester, das sie mir hinter dem Rücken der Eltern triumphierend entgegenschleuderte, wenn ich meine Rüge bekommen hatte, das hörte natürlich außer mir keiner mehr. Denn das raffinierte kleine Biest passte sorgsam auf, dass sein Bild der armen, gepiesackten kleinen Schwester vor den Eltern keine Risse bekam.

Unsre Eltern wollten das alles auch gar nicht so genau wissen, sie waren müde von ihrem Tagwerk und wollten ihre Ruhe. Als Mutter von drei Kindern kann ich das heute verstehen. Damals war ich einfach empört, frustriert, senkte den Blick und sagte gar nichts mehr. Es hätte ja offenkundig doch keinen Zweck gehabt. Muss ich noch hinzufügen, dass das Verhältnis zu meiner Schwester bis heute gestört ist?

Eltern sind fehlbare und ziemlich oft einfach überforderte Menschen.
Aber warum macht Gott das so? Warum nimmt er das Opfer des einen Bruders an, und das des andern nicht? Ist das liebevoll? Oder auch nur gerecht?
Was ist das denn für ein Gott, um dessen Zuwendung Geschwister konkurrieren müssen? Was ist das überhaupt für ein Gott, der nicht genug Liebe für alle hätte? 

Es gibt dafür keine Erklärung, jedenfalls im Text wird uns Lesern keine geboten. An Gottes Verhalten gibt es keine Kritik. Aber natürlich provoziert es Kritik.

Die Ausleger dieser Geschichte haben das oft nicht ertragen, und sie haben Erklärungen hineinphantasiert, Erklärungen, die Gott entlasten sollten.

Kain, heißt es da zum Beispiel, sei von Anfang an nicht fromm genug gewesen, er habe sein Opfer widerwillig erbracht, nicht mit angemessener Dankbarkeit. Deshalb habe es Gott nicht geschmeckt, und er habe das Opfer des frommen Abel bevorzugt. Davon aber steht kein Wort im Text.

Oder: Kain, das sage schon die hebräische Bedeutung seines Namens, sei ein starker, kriegerischer Mensch gewesen, Abel dagegen ein kleiner Schwächling, und Gott habe eben die Partei des Schwachen ergriffen, was halt den Starken zu Unrecht erbost habe.

Oder: Das sei eigentlich nur eine Probe für Kain gewesen zu zeigen, dass er der Sünde widerstehen könne, schließlich habe Gott ihn selbst ja noch dazu aufgefordert, sich von der Sünde nicht beherrschen zu lassen.

Gott ist mit allen drei Erklärungen aus dem Schneider, und das Versagen liegt beim Menschen Kain. Aber das sind alles unbefriedigende Erklärungen. Sie stehen so auch nicht im Text der Bibel, und das hat ja vielleicht seinen guten Sinn. Denn sie moralisieren einen Konflikt, der viel tiefer reicht als die Ebene der Moral.
Es geht in der Tiefe dieses Konflikts nicht um richtiges oder falsches Handeln. Es geht auch nicht um Gottes Gerechtigkeit.

Sondern es geht darum, geliebt zu sein. Oder genauer: sich genauso geliebt zu fühlen wie der Bruder, die Schwester neben einem.
Es geht darum, wie aus der Angst, zu kurz zu kommen, der Neid wird, aus Neid die Missgunst, und aus der Missgunst der Hass. Und aus dem Hass schließlich die Vernichtung. 
Am Anfang von allem aber steht die Knappheit, an Zuwendung, an Zeit, an Liebe. Und nirgends wird das besser deutlich als in der Geschwisterbeziehung.

Den Kain treibt nicht die blinde Mordlust oder die menschliche Niedertracht. Das greift viel zu kurz. Nein, den Kain treibt der Bruderneid.
Es ist diese für ein Kind völlig unerklärliche und ungeheuer schmerzliche Erfahrung, dass das eigene Geschwister von den Eltern, von diesen allmächtigen Göttern unserer frühen Kindheit, vorgezogen wird. Oder vorgezogen zu werden scheint.
Es ist die Erfahrung, dass von der Liebe, der Zeit, der Zuwendung, der Wärme und der Aufmerksamkeit der Eltern oft nicht genug da zu sein scheint für alle Kinder.
Es ist die elementare Erfahrung, zu kurz zu kommen, während für andere mehr da zu sein scheint.

Und es ist egal, ob das Gefühl, zu kurz zu kommen, nun eingebildet ist oder der  Wirklichkeit entspricht. Das ist nicht wichtig.
Wichtig ist, ob das Gefühl da ist oder nicht.  Derjenige, der das Gefühl hat, zu kurz zu kommen, erlebt es ja so. Das ist seine Wahrnehmung der Wirklichkeit. Und also ist es seine Wirklichkeit.

Glücklich kann sich schätzen, wer das nie erfahren musste. Wir anderen verstehen Kain zutiefst.

Liebe Gemeinde, was in unserem Krimi dann folgt, ist zutiefst tragisch. Kain findet keinen Weg hinaus aus der Verfinsterung seines Blickes und seines Herzens. Er fühlt sich von Gott nicht gesehen, also guckt er nicht auf ihn. Kain verweigert die Kommunikation.
Er könnte ja Gott fragen, was das denn soll. Er könnte sich beschweren. Er könnte ihn anklagen. Hauptsache, er bleibt im Gespräch. Hauptsache, er verkriecht sich nicht in der Höhle seines inneren Grolls. Könnte ja sein, dass er Antworten bekäme, die ihm weiterhülfen.

Aber das schafft Kain nicht. Das ist nicht in seinem Horizont. Sich gegen den übermächtigen Gott, den übermächtigen Vater, die übermächtige Mutter zu wenden, ist undenkbar.
Kain ist das, was man einen autoritären Charakter genannt hat. Die Ordnung des Oben und Unten, des einer befiehlt, viele gehorchen, die Ordnung der patriarchalen Welt wird von ihm nicht infragegestellt. Das wäre auch ein bisschen viel verlangt von einem biblischen Menschen.
Also wendet er sich gegen den, der vielleicht nicht die Ursache, aber allemal der Anlass des Konflikts ist. Er tötet Abel.

Über Abel erfahren wir nichts. Er taucht als handelnde Person gar nicht auf in dieser Geschichte. Abel ist das geborene Opfer.
Ist das nicht seltsam, liebe Gemeinde, dass die Bibel so gar kein Interesse am zu Unrecht getöteten Abel hat? Dass sie das Ereignis in seiner Schrecklichkeit für Abel, für seine Familie, seine Frau und seine Kinder, seine Mutter und seinen Vater nicht mal andeutungsweise ausführt?

Von Interesse ist allein Kain. Und Kain hat nicht nur einen Menschen getötet, er hat Gottes heilige Ordnung der Welt gestört. Den Ackerboden, den er zur Bebauung zur Verfügung bekommen hatte, den hat er mit Blut getränkt. Der Boden, der gehört nach biblischem Verständnis Gott. Wir Menschen bekommen ihn verliehen, um ihn zu nutzen, aber nicht, um ihn auszubeuten. Oder gar zu verunreinigen.

Und das Blut eines Menschen, das gehört nach biblischem Verständnis Gott. Es trägt die Seele. Deshalb darf kein frommer Jude das Fleisch eines Tieres essen, das nicht nach den Regeln der Kunst beim Schlachten ausgeblutet wurde. Kain also hat einen doppelten Frevel begangen. Nicht nur an einem anderen Menschen, nicht nur an einem leiblichen Bruder, an Gott selbst hat er sich vergangen. Seltsam mild ist da die Strafe. ‚Nur‘ Vertreibung. ‚Nur‘ Hinauswurf aus dem vertrauten Gebiet.  ‚Nur‘ den Verlust des Besitzes.

Rache sähe anders aus. Ein strafender Rachegott hätte sicher anderes in Petto. Aber Kain sieht das nicht. So wenig wie er  irgendwelche Reue zeigt. Kein Bedauern, kein Erschrecken über die eigenen Abgründe. Keine Bitte um Vergebung gegenüber Gott, gegenüber den Eltern, gegenüber der Bruderfamilie.

Es ist nicht leicht, diesen Menschen zu mögen. Einsam, in sich verschlossen, nur mit sich beschäftigt ist dieser Kain. Er sieht nur sich, nur seine Wünsche, seine Bedürfnisse. Auch jetzt. „Die Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte.“ – „Na und?“, könnte man sagen. „Selbst schuld.  Jetzt sieh zu, dass du fertig wirst mit der Situation, die du dir selbst geschaffen hast.“

Gott sagt bekanntermaßen nichts dergleichen. Gott sagt: „Auch der hier, der sich schuldig gemacht hat am Blut seines von mir geliebten Bruders, auch der hier gehört zu mir. Und ich werde niemandem durchgehen lassen, wenn er sich an Kain vergeht, an Kain rächt“.

Und jetzt bekommt die ganze Geschichte einen anderen Dreh. Jetzt öffnet sich die Geschichte zwischen Gott und Kain für eine andere Betrachtungsweise. Gott sieht auch auf Kain. Anders vielleicht, als er auf Abel gesehen hat, aber er sieht ihn und kümmert sich. Trotz Kains Verbrechens. Trotz seiner Befangenheit in sich selbst. Trotz seines Neides.

Kain bekommt das Kainsmal auf die Stirn gebrannt. Es ist zugleich Zeichen seiner abgrundtiefen Schuld wie Zeichen seiner Geschütztheit durch Gott. Wenn irgendwo, dann ist hier die Wurzel für die christliche Ablehnung der Todesstrafe. „Mein ist die Rache!“, sagt der Gott (Dtn 32,35) – und er meint: „Mein ist die Aufgabe, verletztes Recht wiederherzustellen. Mein ist die Aufgabe, mit nichtwiedergutzumachenden Verbrechen zu verfahren. Ihr dürft sie nur so behandeln, dass deutlich wird: Dieses Verhalten können wir nicht durchgehen lassen, wir müssen die grundlegende Gefährdung des Lebensrechtes anderer verhindern und gegebenenfalls bestrafen. Aber die gute Ordnung Gottes wiederherzustellen, indem man Lebensrecht gegen Lebensrecht aufrechnet, und denen das Leben nimmt, die selbst Leben genommen haben – das steht euch nicht zu. Das ist Gottes Privileg.“

Dafür steht das Kainszeichen. Und wir alle tragen davon etwas an uns.

Liebe Gemeinde, dieses Krimi-Prequel hat kein Sequel. Nicht in der Bibel. Kain wird Stammvater eines großen Volkes, jenseits von Eden. Das ist ja nicht schlecht für einen Geächteten. Aber mehr erfahren wir nicht.

Hat er den Neid hinter sich gelassen? Hat er eine neue, befreite Beziehung zu Gott gefunden? Oder schleppt er Neid und Missgunst auch weiter mit sich, guckt er immer noch nicht aufrecht anderen ins Gesicht, nährt er immer noch seine heimliche Wut?
Wir wissen es nicht.

Aber wir wissen, wie der Neid in die Welt kommt, und wohin der Neid uns treiben kann.
Das Gefühl, zu kurz zu kommen, nicht genug zu bekommen, nicht genug Liebe, nicht genug Zuwendung, nicht genug Lebensglück und Lebenschancen – es tötet das Mitgefühl mit denen, denen es besser zu gehen scheint, oder die einem womöglich etwas wegnehmen könnten.
Es tötet die Einfühlung, die Solidarität, die Liebe.
Es tötet die Menschlichkeit.

Ein ebenso banales wie erschütterndes Beispiel hat sich mir ins Gedächtnis gebrannt. 2015, als die Flüchtlinge an den südöstlichen EU-Grenzen in unfassbaren Zuständen gestrandet waren, da hat meine deutsche Kanzlerin Merkel zum ersten Mal in ihrer Amtszeit etwas getan, was meinen Respekt verlangte. Sie hat die Grenzen öffnen lassen.
Und in der Folge sind die fremdenfeindlichen Demonstrationen in Deutschland so richtig aufgeblüht. Symbolische Galgen trugen die Demonstranten vor sich her, daran wollten sie Frau Merkel baumeln sehen.  Im Fernsehen waren sie zu sehen: die hässlichen Fratzen der Zukurzgekommenen, voller Neid, voller Missgunst, voller Hass.
Bilder, die mir noch heute vor Augen stehen: Biedere ältere Frauen mit von Hass und Häme verzerrten Gesichtern, die Gift und Geifer spien über die ebenso biedere ältere Dame Merkel. Fratzen.

Ich habe damals zum ersten Mal begriffen, dass die Triebkräfte, die diese Teile unserer  Gesellschaft antreiben, nicht mehr mit Geld und guten Worten einzufangen sind. Und es ist übrigens ganz egal, ob diese Leute für rechte oder für linke Interessen auf die Straße gehen. Von Neid und Missgunst getriebene Gestalten gibt es überall.
Und es geht da nicht mehr um Gründe, nicht um Argumente, nicht mehr um bessere oder schlechtere Lösungen. Es geht einfach darum, dass endlich der Deckel vom Dampfdrucktopf ist. Es geht darum, endlich aus dem tiefen Gefühl des Zukurzgekommenseins heraus seinem Neid, seiner Missgunst, seinem Hass freien Lauf zu lassen. Mal mehr, mal weniger zivilisiert verbrämt. Und auch, wenn die hassverzerrten Fratzen das verdecken: In der Tiefe regiert Angst, Neid und Zukurzgekommensein. Das lässt sich nicht mehr mit Appellen an die Vernunft eindämmen.

Und die Angst der Zukurzgekommenen, sei sie berechtigt oder eingebildet, übernimmt immer mehr politischen Raum. Der Neid, die Missgunst, der Hass, oder ihre scheinbar zivilisiertere Form, die Verachtung.
Ein uraltes Thema, so alt wie die Menschheit. So alt wie Kain und Abel. Schon die Bibel erzählt uns den Krimi davon, was  passiert, wenn wir diesen Kräften in uns Raum geben.

Liebe Gemeinde, Krimis sind kein Evangelium. Das Evangelium wiederum kann nicht wie ein Krimi funktionieren. Das Kainsmal sprengt die Form des Krimis.
Das Kainsmal ist eine Gestalt von Gottes Zuwendung und Barmherzigkeit. Und von seiner Langmut. Das Kainsmal ist das Evangelium in diesem Krimi-Stück. Es ist die Chance, den Krimi zu drehen, aus der Katastrophe noch eine heilvolle Geschichte zu entwickeln.

Und ich mache mal einen gewagten dogmatischen Sprung: Unser Kainsmal ist die Taufe auf den Namen Jesu Christi.  Diese Taufe sagt es uns und aller Welt: Dieser Mensch gehört zu Gott, dem Vater Jesu Christi. Das ist unser Evangelium. Und es sagt -  Jesus Christus selbst sagt: „Du magst gefühlt oder wirklich zu kurz gekommen sein, ich aber, Gott, ich gebe, was Du brauchst. Gottes Liebe, Gottes Zuwendung, Gottes Zukunft gehören Dir satt. Es ist mir egal, ob Du das verdient hast oder nicht, ich tu es. Ich liebe Dich so, dass ich meinen Sohn in deine Welt sende, damit er mit seinem Leben und Sterben meine Liebe zu dir bezeugt.“
Das ist die Botschaft des Evangeliums.

Liebe Gemeinde, nichts ist so schwer zu glauben wie das. Weil immer wieder unser Neid, unser Gefühl des Zukurzgekommenseins, unsere tiefe Angst diese  Botschaft übertönen.
Wir müssen immer wieder neu damit beginnen, das glauben zu lernen. Das hören zu lernen. Das beten zu lernen. Aber wir dürfen das auch. Immer wieder neu damit beginnen.

Und dann werden wir Momente erwischen, in denen wir es wirklich glauben, gegen unseren eigenen Zweifel.
Und dann, dann erst wird uns der Neid nicht mehr regieren können, noch die Missgunst oder die Existenzangst. Sie werden vielleicht nicht völlig weg sein, aber sie werden klein und unerheblich.

Und daraus kann sich dann doch noch eine heilvolle Geschichte ergeben.

Aber darüber reden wir dann in der nächsten Folge mehr!

29.07.2018: 9. Sonntag nach Trinitatis - Predigt zu Jer 1, 4-10 von Lektorin Dr. Astrid Zinnecker-Rönchen

4. Und des Herrn Wort geschah zu mir:

5. Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker.

6. Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung.

7. Der Herr sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete.

8. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der Herr.

9. Und der Herr streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund.

10. Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.

Liebe Gemeinde!

Es sind unruhige Zeiten.

Überall herrscht Krieg.

Unsicherheit im Volk, und Angst.

Ein kleines Land zwischen den Großmächten.

Womöglich bald zwischen Baum und Borke zerrieben.

 

Wohin sollen sie sich wenden?

Woher kommt ihnen Hilfe? Woher Bedrohung?

Von der Macht aus dem Osten? Von der Macht im Westen?

Wie lange wird es so noch gutgehen?

 

Sie können die Prognose-Fachleute befragen.

Die Zukunftsdeuter.

Die Gotteskundigen.

„Hilfe kommt von Norden“, sagen die einen,

und: „Hilfe kommt von Süden“; sagen die anderen.

Und: „Hier ist der Tempel des Herr!“, sagen sie.

„Uns wird schon nichts passieren.

Wir haben sie doch, die richtige Leitkultur, die rechten Werte.“

 

„Hilfe kommt allein von dem HERRN, unserm Gott“,

sagt Jeremia,

„politische Koalitionen und Allianzen werden euch nicht helfen.

Eure Ränkespiele und Intrigen werden euch nicht helfen.

Eure Beschwörung der Leitkultur wird euch nicht helfen.

Zermalmt werdet ihr und in die Hände eurer Feinde gegeben.

 

Kehrt um von euren bösen Wegen, das wird euch helfen!

Füllt eure Leitkultur mit Leben,

anstatt sie nur als Sicherung gegen außen zu benutzen.

 

Haltet das Wort Gottes ein:

Übt Recht und Gerechtigkeit.

Schützt die Waisen und Witwen und Fremdlinge.

 

Helft den Bedrängten.

Tut niemandem Gewalt an.

Vergießt kein unschuldiges Blut.“

 

 

Liebe Gemeinde!

Vierzig Jahre steht Jeremia in Gottes Dienst.

Vierzig Jahre muss er reden, drohen, klagen.

Ausreißen und einreißen.

Zerstören und verderben.

Vierzig Jahre Außenseiter.

Vierzig Jahre Einsamkeit.

Vierzig Jahre gegen den Mainstream,

vierzig Jahre gegen die schweigende oder gar johlende Mehrheit.

Vierzig Jahre gegen die Macht.

Vierzig Jahre verlacht, verhöhnt, bedroht, geschlagen, verschleppt.

Kein Happy End für Jeremia.

 

Wie hält einer das durch?

Wie wird er nicht verrückt daran?

Wie schafft er es, nicht vor Angst zu verstummen?

Woher nimmt er den Mut, immer wieder neu?

Den scharfen Blick, die klare Sicht?

Woher weiß er, was er weiß, im Widerspruch zu allen anderen?

 

Liebe Gemeinde,

Gott beruft Jeremia.

Aber Jeremia schreckt zurück.

Er will nicht.

Ich kann ihn gut verstehen.

Das kenne ich von mir.

Wo sich unangenehme Aufgaben aufdrängen:

Da suche ich nach Ausreden.

Ich doch nicht!

Ich bin zu jung.

Ich bin zu alt.

Ich bin zu klein.

Ich habe doch keine Ahnung.

Ich habe zu viel zu tun.

Und dahinter steht:

Ich habe Angst.

 

Angst, Angst, Angst:

Angst, aus der Komfortzone raus zu gehen.

Angst, mich lächerlich zu machen.

Angst, schief angesehen zu werden.

Angst, verachtet zu werden.

Angst, allein da zu stehen.

Angst, mich hilflos zu fühlen.

Angst, abzustürzen in die Verzweiflung.

Angst zu scheitern mit meinem Leben.

 

Jeremia geht trotzdem hinaus aus der Komfortzone.

Die Zeiten sind unruhig.

Komfortzonen eine Illusion.

Man muss nur die Augen offen haben zu sehen,

die Ohren zu hören,

das Herz, um wahrzunehmen,

und man sieht:

Die Not ist groß im Land und weit umher.

Mögen einige besser leben, mögen sie sich sicherer wähnen –

Viele umtreibt das Elend.

 

„Ich möchte nicht wissen,

wieviele morgens auf der Bettkante sitzen

und nicht mehr weiterwissen.

Ich weiß es.

Aber ich möchte es nicht wissen.“

(Hanns Dieter Hüsch)

 

Wir können es wissen. Wir wissen es.

Wir gucken in die Zeitung und wir wissen es.

Wie wir beten sollen,

sagt der Theologe Karl Barth,

steht in der Bibel.

Was wir beten sollen,

steht in der Zeitung.

 

Sollen wir die Augen und Ohren verschließen?

Die Herzen verhärten?

Sollen wir uns von der Angst regieren lassen?

Von der Angst und all ihren kleinen Geschwistern –

dem Geiz, dem Neid, der Gier, der Häme, der Verachtung?

 

Können wir ernsthaft glauben,

das hätte nichts mit unserm Gott zu tun?

Können wir ernsthaft glauben,

das hätte nichts mit uns zu tun?

Das ginge uns nichts an?

Unser Gott ist ein mitleidender Gott.

Können wir ernsthaft glauben,

wir kämen um das Mitleiden drumrum?

 

Gott ist Mensch geworden für uns Menschen.

Gott ist Mitmensch geworden,

damit wir anderen Menschen Mitmenschen sein können.

Nicht nur denen in unserer Komfortzone,

sondern auch und gerade denen draußen.

Und Gott ist mit uns auf diesem Weg.

 

Liebe Gemeinde,

Gott sendet seine Boten.

Menschen, die verstanden haben.

Die ihn im Herzen verstanden haben und ihm glauben.

Es gibt keine objektiven Beweise,

keine Ausweise und keine Zertifikate für rechtes Botentum.

 

Es gibt nur den inneren Drang,

dass das, was ich innen von Gottes Liebe spüre,

auch außen verständlich werden soll.

Es gibt nur die innere Verzweiflung

über die Welt, wie sie ist,

und all die Menschen,

die noch immer auf ihrer Bettkante hocken müssen.

Und beides zusammen ist Grund genug,

mit Gott hinauszugehen aus der Komfortzone,

und den Mund aufzutun für die Schwachen,

für die Entrechteten, für die Verlorenen.

 

Liebe Gemeinde,

wir haben eine phantastische Botschaft.

Eine überwältigende Botschaft.

Wir haben die Botschaft:

Gott ist mit den Schwachen.

Kein Mensch soll verloren gehen.

Alle Kreatur soll leben dürfen.

Gott ist auf ihrer Seite.

Auf unserer Seite.

 

Und wir haben eine schwierige Botschaft.

Oder genauer:

Die Botschaft ist ganz einfach.

Wir sind es nicht.

Die Welt, in der wir leben, ist es nicht.

Es ist nicht leicht,

dieser Welt unsere Botschaft glaubhaft zu bezeugen.

Es ist nicht leicht,

den langen Atem zu behalten,

die innere Gewissheit, mit Gott im Recht zu sein.

 

Jeremia wusste das.

Er hatte es immer wieder erfahren.

Aber er hatte auch erfahren, dass Gott ihn trug.

40 Jahre.

 

Den langen Atem,

die wahre Wahrheit,

die zukunftsträchtige Perspektive –

die haben wir mit Gott.

Gott schenkt sie uns.

Immer wieder neu.

17.06.2018 3. Sonntag nach Trinitatis - Predigt zu Lk 19,1-10 von Lektorin Dr. Astrid Zinnecker-Rönchen

Liebe Gemeinde!

Das ist eine alte Geschichte. Eine wohlvertraute Geschichte. Eine Kindergottesdienstgeschichte. Wir haben bestimmt alle die Bilder vorm inneren Auge, der kleine Zachäus, der auf den Baum klettert, bis Jesus ihn herunterruft. Der aufgeregt herumspringt, weil er – ausgerechnet ER! – diesen Jesus beherbergen soll. Das lieben die Kinder. Kleine Menschen ganz groß. Es geht aber an der eigentlichen Bedeutung dieser Geschichte vorbei.

Denn Zachäus war nicht nur ein kleiner, neugieriger Mensch, er war auch Teil einer korrupten Unterdrückungsmaschinerie. Er beutete Menschen aus, im Dienste der Römer, zum eigenen Vorteil. Er hatte sich, warum auch immer, entschieden, gegen die Interessen seiner eigenen Leute zu handeln. Er hatte sich gegen die Solidarität mit dem eigenen Volk gestellt. Ein Kollaborateur. Ein Opportunist. Ein Kriegsgewinnler. Eine zwielichtige Gestalt. Ein Unsympath. Mindestens. Vielleicht Schlimmeres? Einer, der sich nicht fernhielt von Geschäften mit den unreinen römischen Heiden. Ob der denn auch noch den rechten Glauben hatte? Ob er nicht schon längst abgefallen war vom Gott Israels? Selber unrein geworden war? Einer, bei dem man sich nur anstecken konnte mit Unreinheit? Einer, der einen womöglich zum Zweifeln brachte an den eigenen Überzeugungen? Die eigene Frömmigkeit störte? Zachäus mochte wirtschaftlich erfolgreich sein, sozial war er unten durch, einer, von dem man sich fernhielt, ein Geächteter unter seinem Volk.

Ausgerechnet diesen Mann unter allen sucht sich Jesus aus. Er ruft ihn beim Namen, noch ehe Zachäus sich vorstellen kann. Jesus kennt Zachäus, bevor Zachäus Jesus kennenlernt. Und Jesus lädt sich in das Haus des Zachäus ein, als sei es für ihn das Selbstverständlichste, mit den Fiesen und Zwielichtigen dieser Welt Umgang zu pflegen. Zachäus muss um nichts bitten, keinen Antrag auf Wiederaufnahme stellen, keinen Abbitte leisten, keine Schuld bekennen und keine Umkehr schwören, er muss kein neues Leben beginnen und nicht versprechen, ein anderer, ein besserer Mensch werden zu wollen. Jesus kehrt bei Zachäus ein. Gott selbst kehrt beim Sünder Zachäus ein. ‚Er nahm ihn auf mit Freuden‘ -  das ist alles, was wir darüber erfahren.

Gut, hinterher kommt Zachäus und verspricht, das Unrecht wiedergutzumachen, das er begangen hatte. Und er ist großzügig. Üppig ist seine versprochen Rückgabe. Ich lese das so: Die Begegnung mit Jesus, dem Menschen- und Gottessohn, der mit ihm ohne jede Bedingung und Einschränkung Gemeinschaft hielt, hat das kleine Herz des kleinen Zachäus geöffnet, so dass er ebenso überströmend zurückgeben wollte, wie er gerade überströmend empfangen hatte. Ich lese das so: So begegnet Gott dem Menschen durch den Menschensohn Jesus, dass er ohne jede Vorbedingung überströmend Liebe gibt, und der Mensch von dieser Liebe großzügig weitergeben kann.  So begegnet Gottes Liebe dem Menschen Zachäus durch den Menschensohn Jesus, dass der Mensch sie weitergeben muss, weil sie mehr ist, als er für sich behalten kann.

Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

Liebe Gemeinde, das ist eine völlig einfache Geschichte. Da braucht es keine gelehrten Ausführungen über den Hintergrund der Situation, über Verfasser oder Kontext. Keine komplizierten Gedankengänge. Die zentrale Botschaft  ist völlig schlicht und klar: der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

Das ist nicht nur schlicht und einfach. Das ist auch die Quintessenz der Bibel, des Evangeliums, der guten Botschaft von unserem Gott: der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Darum und nur darum geht es im Auftreten Jesu, in seinen Worten, in seinen Taten, in seinem Leiden und Sterben, in seinem Auferstehen. Das irdische Kommen Jesu bis hin zu Kreuzigung und Auferweckung hat nur diesen einen Zweck: Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

‚swsai‘ steht da im griechischen Original für ‚selig machen‘. Das kommt vom Verb swzein und heißt soviel wie ‚gesund machen, unversehrt am Leben erhalten, wiederherstellen, durchbringen, retten, glücklich heimführen‘. Und was selig gemacht werden soll, das ist das, was ‚verloren‘ ist im Sinne von: das, was dabei ist, zugrunde zu gehen. Das, was dem Tod und dem Verderben preisgegeben ist.

Der Menschensohn ist gekommen, das zu suchen und gesund zu machen, durchzubringen und glücklich heimzuführen, was sich selbst verloren hat und dabei ist, zugrunde zu gehen.

Das ist, liebe Gemeinde, eine ganz einfache Botschaft. Und eine ganz klare. Es gibt da nicht noch irgendeine Einschränkung im Kleingedruckten. Gott sucht, was verloren ist, und führt es glücklich heim. Ohne Wenn und Aber. Das ist schon ein ungeheurer Gedanke, dass Gott ohne jede Vorbedingung, ohne Vorleistung unsererseits, und ohne irgendeinen Erfüllungsvorbehalt sucht und selig macht uns und alle, die wie wir ohne ihn verloren sind.

Die Botschaft ist einfach und klar, unbedingt und uneingeschränkt. Schon Luther hat sie uns Evangelischen eingehämmert. Allein aus Gottes Gnade, „ohn‘ eigen Verdienst und Würdigkeit“, geschieht Gottes Zuwendung zu uns. Und zwar immer wieder neu. Das ist eine Überzeugung, die tief eingeschrieben ist in die DNA unseres evangelischen Glaubens. Ohn eigen Verdienst und Würdigkeit bin ich berufen in die Gemeinschaft mit Gott. Ohn eigen Verdienst und Würdigkeit ist ein jeder von Ihnen/von Euch berufen in die Gemeinschaft mit Gott. Ohn eigen Verdienst und Würdigkeit ist aber auch jeder Mensch berufen in die Gemeinschaft mit Gott. Die Botschaft ist einfach und klar, unbedingt und uneingeschränkt. Nur – wir sind es nicht. Wir wüssten die Botschaft gerne ergänzt durch Kleingedrucktes, wir möchten sie beschränken und an Bedingungen knüpfen. Wir möchten Ordnung haben in Verhältnis zu Gott. Klarheit über seine Regeln. Übersicht, wer dazugehört und wer nicht. Kontrolle darüber, wer drinnen ist und wer draußen.

Deshalb gibt es faktische Zugangsbeschränkungen zu den Gemeinden. Nicht einmal so sehr in den formalen Regeln, aber immer in den unausgesprochenen. Wen heißen wir warmherzig willkommen? Mit wem halten wir Gemeinschaft? Mit wem reden wir, mit wem nicht? Lieber nur mit denen, die auf die gleiche Weise Verlorene sind wie wir? Lieber nicht mit denen, die anders sind als wir und uns fremd vorkommen? Lieber nicht mit denen, die anders denken? Lieber nicht mit denen, die eine andere Körperhygiene haben und anders riechen? Lieber nicht mit denen, die sich nicht an unsre Regeln halten? Lieber nicht mit denen, die eine andere Partei wählen? Lieber nicht mit denen, die eine andere sexuelle Orientierung haben oder eine andere Vorstellung vom guten Leben?

In der Theorie klingt es schön und wahr und richtig:  Gottes uneingeschränkte Liebe zu den Menschen, seine rückhaltlose Zuwendung zu jedem einzelnen. In der Praxis ist es unendlich schwer und ungeheuer mühsam für uns, für mich, damit Schritt zu halten. Immer wieder aufs Neue stoße ich an die Grenzen meiner Geduld, meiner Toleranz, meines Verständnisses, meiner Empathie. Es ist schwer zu ertragen, dass Gottes Liebe dem anderen genauso gilt wie mir. Dem anderen, den ich unangenehm finde. Der mich irritiert oder gar  anwidert. Der mich verstört und mir unbegreiflich bleibt. Der mir stinkt. Wieviel bequemer ist es, sich nur mit denen zu umgeben, die einem ähnlich sind? Ähnlich denken? Ähnlich glauben? Das ist alles menschlich. Allzu menschlich.

Ich fürchte nur, das ist keine Option für Menschen, die etwas erfahren und begriffen haben von der uneingeschränkten Liebe Gottes und davon etwas weitergeben wollen und geradezu müssen. Liebe Gottes, die man für sich behält und im eigenen Herzen eingesperrt bewahren will, geht zugrunde. Eine Gemeinde, die lieber unter sich bleiben will, Gottes Liebe als kleine wärmende Flamme in der eigenen, homogenen Gemeinschaft behalten, die wird dieses Feuer ersticken, früher oder später. Die Liebe Gottes ist ein aerobes Wesen. Sie braucht Licht und Luft, Bewegung, Begegnung, Austausch, damit sie nicht erstickt oder vertrocknet.

Und, um noch eins drauf zu setzen: Wenn Gottes Liebe nur den halbwegs Anständigen und ordentlich Gewaschenen, nur den niemals unmäßig Besoffenen und den zumindest halbwegs Gutwilligen gelten würde – welche Garantie hätten wir denn, dass wir immer zu den von dieser eingeschränkten Liebe Erfassten gehörten? Sie, du, ich – wir alle hängen doch daran, dass Gottes Liebe jedem einzelnen von uns in die ganze Nacht seiner persönlichen Sündentiefe folgt.  Dass sie auch noch die schwärzeste Stelle seiner Seele erreicht. Am Ende hängen wir alle, Sie, du und ich, daran, dass Gottes Liebe unbedingt und uneingeschränkt jedem Menschen gilt. Am Ende hängen wir alle daran, dass der Menschensohn gekommen ist, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Was ohne ihn wirklich wirklich völlig verloren wäre, Sie, du, ich und alle anderen.

Das ist unser Grundwissen. Unsere christliche Grundbotschaft. Und deshalb müssen wir diese christliche Grundbotschaft auch unter die Menschen bringen. Es hilft nichts. Wir müssen mit Gottes Liebe hinaus aus der Komfortzone. Dahin, wo es unbequem wird. Dahin, wo unsere Selbstgewissheit angegriffen wird. Wo die vertraute Gemütlichkeit der christlichen Gemeinschaft aufhört, damit das Abenteuer Gottes mit den Menschen anfangen kann. Christliche Gemeinde sein ist anstrengend.

Liebe Gemeinde, ich habe ein interessantes Buch der amerikanischen lutherischen Pfarrerin Nadia Bolz-Weber  entdeckt. Nadia Bolz-Weber ist eine eindrucksvolle Gestalt, die sofort alle Aufmerksamkeit auf sich zieht mit ihren muskulösen 1,80m Größe, ihren vielen Tattoos, die sie gerne in ärmellosen Blusen mit Priesterkragen zeigt. Eine Frau, die alkoholabhängig war, die unter Drogensüchtigen, Hippies, Punks, Prostituierten, Drag-Queens und sonstigen Verlorenen gelebt hat, die sich aus ihrer eigenen Misere herausgearbeitet und ihren Weg zu Gott, zum Glauben und ins Pfarramt gefunden hat, ohne ihre Vergangenheit zu verleugnen. Vor 10 Jahren hat sie in Denver, Colorado eine Gemeinde gegründet, das ‚House for all Sinners and Saints‘, das ‚Haus für alle Sünder und Heilige‘. Ein Haus, eine Gemeinde für ‚ihre Leute‘, wie sie sagt: für all die, die nicht zur gepflegten Mittelstandsgesellschaft gehören, für alle, die aus Geschichte gefallen sind, die ihr Leben nicht mehr unter Kontrolle haben, für die bürgerliche Wohlanständigkeit keine Möglichkeit zu sein scheint. Eine Gemeinde, in der sehr unterschiedliche und sehr unterschiedlich schräge Menschen einander begegnen und es miteinander auszuhalten versuchen, Arme und Reiche, Obdachlose und Wohnungsbesitzer, Behinderte, Kranke und Gesunde, Ex-Drogies, Ex-Knackis, Schwule und Heterosexuelle, Transvestiten und Transgender-Personen, gebildete und einfache Menschen, und, tatsächlich, auch ein paar Farbige und Angehörige anderer ethnischer Minderheiten. Die feiern jeden Sonntag miteinander einen ganz stinknormalen lutherischen Gottesdienst, mit der vollen lutherischen Liturgie, von der wir hier nur noch Überreste haben.

Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

So etwas, denke ich mir, müssten all unsere Gemeinden sein. Das müsste unsere vornehmste Aufgabe sein: ein Haus zu sein für alle Sünder und alle Heiligen. Und die Heiligen würden ihre Heiligkeit gerade dadurch beweisen, dass sie es mit den Sündern aushalten, schon weil sie wissen, wie nah sie selbst an ihnen dran sind.

Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

Sie, Dich, mich und all die anderen. Was ließe sich Großartigeres sagen? Gibt es eine phantastischere Perspektive? Pfarrerin Bolz-Weber sagt das so:

„Selig sind die Agnostiker. Selig sind die, die zweifeln, die, die sich nicht sicher sind, die, die sich immer noch überraschen lassen. Selig sind die, die nichts anzubieten haben.

Selig sind die, für die der Tod nichts Abstraktes ist. Selig sind die, die geliebte Menschen beerdigt haben, für die die Tränen einen Ozean füllen könnten.

Selig sind, die genug geliebt haben, um zu wissen, wie sich Verlust anfühlt. Selig sind die, die  den Luxus nicht mehr haben, noch irgendetwas für selbstverständlich zu halten. Selig sind die, die nicht auseinanderfallen können, weil sie es für alle anderen aufrechterhalten müssen. Selig sind die, die immer noch nicht darüber hinweg sind. Selig sind die Trauernden.

Selig sind die, die niemand sonst zur Kenntnis nimmt, die Kinder, die allein am Tisch der Schulkantine sitzen, die Typen, die im Krankenhaus die Wäsche waschen, die Sex-ArbeiterInnen,  und die Nachtschicht der Straßenreiniger, selig sind die Arbeitslosen, die, die keinen Eindruck hinterlassen, die Unterrepräsentierten.

Selig sind die fälschlich Angeklagten, die, die nie eine Pause machen, die, für die das Leben hart ist, denn Jesus entschied sich, sich mit Menschen wie ihnen zu umgeben. Selig sind die ohne Papiere. Selig sind die ohne Lobby. Selig sind die, die Menschen zugute verheerende Geschäftsentscheidungen treffen. Selig sind ausgebrannte Sozialarbeiter und überarbeitete Lehrer und die, die kostenlos beraten und sich kümmern.

Selig sind die Promis, die sich für eine gute Sache einsetzen. Und selig ist das Kind, das sich zwischen die Rüpel und die Schwachen stellt. Selig ist jeder, der mir vergeben hat, wenn ich es gar nicht verdient hätte. Selig sind die Barmherzigen, denn sie haben’s total begriffen. Ihr seid vom Himmel und Jesus segnet euch.“

Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Amen.

13.05.2018: Exaudi – Predigt zu Jer 31, 31-34 von Lektorin Dr. Katja Eichler

Liebe Gemeinde! Gnade sei mit Euch und Friede vom dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

Dieser Sonntag ist ein Sonntag, der, wie ich schon am Anfang des Gottesdienstes erwähnt habe, irgendwie dazwischen steht. Ein Sonntag zwischen zwei großen christlichen Festen, der Sonntag zwischen Christi Himmelfahrt und Pfingsten. Am Anfang habe ich kurz über die liturgischen Farben gesprochen und mir ist dabei aufgefallen, dass ich selbst diesem Sonntag eigentlich die violette Farbe geben würde. Denn heute erwarten wir wieder etwas, wir erwarten das Kommen des Heiligen Geistes und mich erinnert dieses Warten an die Adventszeit mit ihrem Warten auf die Geburt Jesu und an die Passionszeit mit ihrem Warten auf die Auferstehung Jesu. Ein Sonntag, der zwischen den Zeiten steht, ein Sonntag der Erwartung, einen Sonntag der Ankündigungen, ein Sonntag der Verheißungen.

An diesem Sonntag hören wir einen Predigttext aus dem Alten Testament. In unserer alten Perikopenordnung, also der Anordnung, welche biblischen Texte an welchem Sonntag im Gottesdienst gelesen und gepredigt werden, kommen alttestamentliche Texte nicht so oft vor. Das wird sich ändern ab dem 1. Advent dieses Jahres. Denn in die neue Perikopenordnung wurden einige alttestamentliche Texte aufgenommen, ihr Anteil wird verdoppelt werden.

Das Alte Testament ist die Geschichte des Volkes Israel mit ihrem Gott. Und es ist ganz wichtig, diese Geschichte, diese heilige Schrift dem Volk Israel auch zu lassen, es nicht nur auf Jesus hin zu lesen, sondern wahrzunehmen, dass wir Christen das Alte Testament zwar durch unsere christliche Brille lesen, aber diese nicht die einzige Brille ist, durch die es gelesen werden kann und gelesen werden soll.

Unser heutiger Predigttext stammt aus dem Jeremiabuch. Der Prophet Jeremia ist aus einer priesterlichen Familie in Anatot im Stammgebiet Benjamin (also einem der zwölf Stämme Israels). Die Familie lebte ungefähr 10 km nordöstlich von Jerusalem. Von seiner Berufung wird erzählt, dass er sich zu jung fühlte, dieses Amt von Gott anzunehmen, d.h. dann auch, dass er im Kreis der Ältesten noch nicht mitreden durfte.

Sein Prophetenamt übt er unter verschiedenen Königen aus in schwierigen Zeiten, denn das Nordreich Israel mit seiner Hauptstadt Samaria ist keine eigenständige politische Größe mehr. Fremde Bevölkerung kommt in das Land und es kommt auch zu religiösen Vermischungen mit dem Volk Israel. Jeremia beklagt, dass sein Volk den Glauben an seinen Gott aufgibt. Er droht dem Volk mit einem kommenden Gericht. Immer wieder weist er darauf hin, dass das Volk Israel sich bekehren muss. Nur durch die Umkehr wird es eine heilvolle Zukunft geben. Aber sein Reden stößt auf Widerstand, nicht nur durch den jeweils regierenden König, sondern auch durch die Priester.

Jeremia wird wegen seiner kritischen Tempelrede bedroht und verfolgt, sogar Gewalt an sich selbst und seiner Familie muss er ertragen. In dieser Zeit klagt er Gott an, er leidet unter seinem Auftrag, aber er geht seinen Weg weiter mit Gott. Jeremia bleibt der Bote Gottes, auch wenn der König das Wort Gottes vernichtet und das Volk nicht auf dieses Wort hört. Trotz eines Gefängnisaufenthaltes fordert Jeremia das Volk Israel immer wieder auf, nicht auf die falsche Sicherheit mit den Babyloniern, die Jerusalem unterwerfen und den Tempel zerstören, zu setzen, sondern sich wieder ihrem Gott zuzuwenden.

Jeremia spricht in dieser Zeit nicht nur vom Gericht Gottes, sondern auch von dem kommenden Heil, das für das weggeführte Volk und für das dagebliebene Volk gilt. Schließlich wird er vor die Entscheidung gestellt, mit den Exilanten nach Babylon zu gehen oder im verwüsteten Land seiner Heimat zu bleiben. Er entscheidet sich, im Land zu bleiben. Immer wieder wendet er sich gegen den Götzendienst und ruft das Volk auch nach der Niederlage auf, seinem Gott treu zu bleiben.

In diesem Licht ist der folgende Text zu sehen, der als Predigttext für diesen Sonntag ausgewählt wurde. Ich lese aus dem Buch des Propheten Jeremia, aus dem 31. Kapitel.

„31 Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen, 32 nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, mein Bund, den sie gebrochen haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der Herr; 33 sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der Herr: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein. 34 Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Erkenne den Herrn«, denn sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der Herr; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.“

Dieser neue Bund wird für eine endzeitliche Zukunft verheißen. Er wird für das ganze Volk Israel, für das Nordreich und für das Südreich Juda gelten. Der neue Bund allerdings, ist gar nicht so neu, denn Gott hat diesen Bund schon Noah zugesagt, genauso wie er ihn Abraham zusagte und auch Mose. Gott bricht diesen Bund nie, er hat ihn einmal zugesagt und er gilt für alle Zeit.

Aber die Menschen wenden sich von Gott ab. Scheinbar brauchen sie immer wieder neu die Zusicherung, die Ermahnung, das Erinnern. Der Inhalt des neuen Bundes wird derselbe sein, wie der des alten. Gott spricht: „Ich werde ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein“.

Neu an diesem  Bund  ist,  dass Gott  seinen  Bund  in  die  Herzen  der  Menschen  schreiben  wird. Ein Prophet, ein Verkünder, eine Lehrerin wird nicht mehr nötig sein, um von Gott und seinen Taten zu erzählen, denn jede und jeder wird Gott durch dieses Schreiben in das eigene Herz erkennen. Mit dieser Gotteserkenntnis geht die Vergebung der Gottesferne, der Sünde, einher.

Gott setzt seinen Bund fort, er straft das Volk nicht, sondern er vergibt. Er vertieft den Bund mit dem Volk Israel, dadurch wird die Treue Gottes gezeigt. Gott macht seine Verheißungen wahr.

Die Verheißungen Gottes werden wahr. Auch den Jüngern Jesu wurde etwas verheißen. Im Evangeliumstext haben wir gehört, dass Jesus zu seinen Jüngern sagt: „Wenn aber der Tröster kommen wird, den ich euch senden werde vom Vater, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, der wird Zeugnis geben von mir.“ und im Kapitel davor heißt es: „Das habe ich zu euch geredet, solange ich bei euch gewesen bin. Aber der Tröster, der Heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“

Mit Christi Himmelfahrt verlässt Jesus die Jüngerinnen und Jünger. Wieder sind sie allein. Sie haben zwar schon die Auferstehung erlebt, alles erscheint möglich, aber trotzdem brauchen sie etwas, sie brauchen eine Gewissheit, dass dieser Abschied nur wie ein Abschied aussieht und dass etwas kommen wird, dass die Verbindung wieder herstellt, die Verbindung zwischen Jesus zu den Jüngern, die Verbindung zwischen Gott und den Menschen.

Und sie beginnen zu warten, warten auf das, was ihnen zugesagt wurde, warten auf die Verheißung. Die Verheißungen Gottes, sie gelten auch uns. Der neue Bund, er gilt dem Volk Israel. Und gleichzeitig gilt er auch uns.

Die „wartende Gemeinde“ so wird dieser Sonntag auch überschrieben. Warten wir noch? Spüren wir es, spüren wir das Ankommen des Geistes Gottes?

Wenn wir im Glaubensbekenntnis sagen, „ich glaube an den Heiligen Geist“, dann höre ich immer wieder Stimmen einiger mir sehr vertrauter Menschen, die meinen: „Dieser Heilige Geist, er ist mir so fern und fremd. Ich weiß nicht, wozu es ihn unbedingt geben muss. Mein Bekenntnis und meine Beziehung zu Gott und Jesus Christus reicht doch aus.“ Ja, ich kann diese Anfragen verstehen, der Heilige Geist ist nicht so fassbar innerhalb der Dreifaltigkeit.

Die Jüngerinnen und Jünger warten nach Christi Himmelfahrt auf ihn, sie erwarten ihn sehnlichst, weil er die Erinnerung ist, weil er die Verbindung wieder neu schafft zwischen Gott, zwischen Jesus und den Menschen. Und er schafft auch die Verbindung der Menschen untereinander, sie können einander nun verstehen, sie haben alle die gleiche Ausgangslage.

Und wenn ich mir den Predigttext von heute noch einmal ansehe, der Bund der ins Herz geschrieben wird, der keine Verkündigung mehr braucht und keinen Religionsunterricht, dann wünschte ich mir, der Geist Gottes wäre in unserem Land, in unserer Stadt, in unserem Miteinander mehr spürbar. Wenn mehr Menschen den Heiligen Geist, die Nähe Gottes, seine Liebe und sein Dasein spüren und leben würden, dann denke ich, wäre das Leben leichter, wären wir Menschen uns näher, nicht so auf uns selbst fixiert, es würde mehr Gemeinschaft geben, nicht nur im Kleinen, sondern auch im Großen. 

Dieser Sonntag, der zwischen den christlichen Festen steht, er scheint mir ein Sinnbild für unsere heutige Gesellschaft zu sein. Eine Gesellschaft, die zwar um ihre religiösen Wurzeln weiß, die vielleicht einige biblische Geschichten kennt, die moralische Werte alter Zeiten bewahren will, die aber die Individualität, den eigenen Willen, die Selbsterlösung aus dem eigenen Verhalten heraus über alles stellt.

Man könnte sagen, eine Gesellschaft ohne den Heiligen Geist, eine Gesellschaft mit Gesetzen und Zielen, aber ohne das Warten auf eine Verheißung. Ohne den Glauben an die Verheißung.

Unsere heutigen Bibeltexte nehmen uns mitten hinein, in die Verheißungen Gottes. So, wie wir sie heute gehört haben, so nehmen wir sie mit in diese neue Woche. In eine Woche des Wartens, ein Warten auf den Heiligen Geist.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen.

22.04.2018: Jubilate – Predigt zu 2. Kor 4,16-18 von Lektorin Dr. Astrid Zinnecker-Rönchen

"Darum werden wir nicht müde; sondern, wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert. Denn unsre Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit, uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig."

Liebe Gemeinde!

Als ich noch studierte, habe ich, wenn ich am Wochenende daheim war, Sonntags immer gerne einen anderen der vielen evangelischen Gottesdienste in einer anderen Kirchengemeinde meiner Heimatstadt besucht, um die Vielfalt der Prediger und Predigträume kennenzulernen. Und da gab es eine Gemeinde in einem alten, etwas ärmlichen Arbeitervorort, mit einer kleinen, modernen, hellen Kirche. Der Pfarrer da war ein großer, jüngerer Mann, mit einem breiten Kreuz und Händen wie Schaufeln. Er sah aus, als passe er viel besser in einer Latzhose auf eine Baustelle, als fühle er sich unwohl in Anzug und Talar. Und so predigte er auch. Er hatte eine einfache Sprechweise, keine komplizierten Botschaften, und er rang oft nach Worten. Die Begriffe kamen ihm nicht glatt und flüssig, da war keine Eleganz des Ausdrucks, schon gar nichts Poetisches. Jeden Satz, das merkte man, musste er sich abringen. Reden war nicht seine Stärke. Und er wusste das wohl auch.

Ich bin da trotzdem immer gern hingegangen. Weil man merkte: So schwer diesem Pfarrer das Predigtgeschäft fiel, so hölzern seine Sätze mitunter wirkten – das, was er sagte, das meinte er auch. Dafür stand er ein. Er wollte es sagen, anderen mit-teilen, den Menschen Teil geben an dieser Botschaft. Er stand mit seiner Person in all seiner Unzulänglichkeit dafür ein. Und das machte alles, was er sagte, unendlich viel glaub-würdiger als all die begrifflich geschliffenen Wahrheiten, die man gerade in der Kirche so oft zu hören bekommt, bei denen einem aber unklar bleibt, wieviel persönlicher Einsatz ihr Verkünder dahineinbringt. Wahrheit in der Kirche, das ist keine abstrakte Größe, Wahrheit ist ein Beziehungsbegriff.

Fragen Sie einmal jemanden, der sich abfällig über den christlichen Glauben äußert, woher das eigentlich kommt, dass er so wenig davon hält. Viele davon werden Ihnen von Begegnungen mit Menschen erzählen (und oft genug waren es Pfarrer), die christliche redeten und unchristlich handelten. Die nicht überzeugen konnten, weil zwischen ihrer Botschaft und ihrem Verhalten, Denken, Empfinden eine große Lücke klaffte. Und die so die ganze Botschaft unglaubwürdig machten.

Genau das hatte schon Paulus so empfunden. Genau das war der Streitpunkt gerade auch in Korinth. Auf der einen Seite Paulus: Er hatte die Gemeinde gegründet, er hatte ihr erstes Werden als Gemeinde begleitet. Er kannte die Menschen, war ihnen verbunden. Aber er hatte sie verlassen müssen, als es einigermaßen lief, um mit seinem Werk fortfahren zu können, das Evangelium von der unendlich großen Liebe Gottes zu den Menschen in alle Welt zu tragen. Das hatten sich andere zunutze gemacht. Sie hatte die Gemeinde gekapert oder zumindest unterwandert. ‚Überapostel‘ nennt Paulus sie, Menschen mit dynamischen Auftreten, glatter, charmanter Persönlichkeit, brillanter Sprache. Sie intrigieren gegen Paulus. Sie machen ihn lächerlich mit seiner persönlichen Schwerfälligkeit, mit seiner langsamen Sprache, mit seiner Behinderung. Sie verweisen auf die Fragwürdigkeit seiner Autorität. Er hatte den Herrn Jesus ja gar nicht mehr live erlebt. Und die Jerusalemer Urgemeinde stand nicht wirklich hinter ihm. Und war Paulus am Ende nicht nur ein seltsames Männlein mit einer seltsamen Botschaft, in ungeschickter Rede vorgetragen? Und wer weiß, womöglich bereicherte er sich auch noch persönlich an den Spendengeldern, die die Korinther aufbrachten? Religion als privates Geschäftsmodell – Paulus wäre nicht erste und schon lange nicht der letzte gewesen, der versucht hätte, sich an der Gutgläubigkeit der Menschen eine goldene Nase zu verdienen. So versuchten seine Gegner, Paulus aus der korinthischen Gemeinde zu verdrängen.

Und diese dynamischen, brillanten Überapostel trafen mit dieser Saat des Zweifels auf fruchtbaren Boden. Die Botschaft des Paulus passte vielen Korinthern nicht so richtig ins Konzept. Man war ja doch nicht naiv, nicht ungebildet, man war auf der Höhe der Zeit. Man lebte in einer Welthafenstadt voll pulsierenden geistigen Lebens. Ein Gott, der Tote auferweckt und sich mit den Gläubigen in Herrlichkeit vereint, das war schon eine attraktive  Botschaft. Ein Gott, der am Kreuz stirbt, der sich dem Elend und dem Leid aussetzt, und von dessen Herrlichkeit noch gar nicht viel zu sehen ist, das war keine attraktive Botschaft. Die Auferstehung haben sie Paulus gerne abgekauft, die Korinther, aber die Kreuzigung Jesu Christi, das fanden sie irgendwie peinlich. Die wollten sie nicht so gern betont sehen. Dann lieber reden von den Wirkungen des Heiligen Geistes, von der Großartigkeit des Heilswerkes Gottes, von der Gegenwart des Auferstandenen. Und die Solidarität mit den Armen, naja, die war da nicht so wichtig. Eine Jubelgemeinde, die das Kreuz vergessen hat, die sich selbst feiert und auf der himmlischen Erfolgswelle in die Ekstase surft - jedenfalls diejenigen unter den Gemeindegliedern, die es sich materiell leisten können, derart abzuheben -, und das schon für das Heil Gottes hält.

Die Überapostel hätten es beinahe geschafft mit ihrer Botschaft, die so perfekt die religiösen Bedürfnisse der Korinther bedient. Paulus musste dagegen das ganze Gewicht seiner Autorität in die Waagschale geworfen. Keine abstrakte Autorität, keine durch Zeugnis belegte, aber auch keine angemaßte, die durch Brillanz und Rhetorik blendet. Seine Autorität ist die seines inneren Brennens für die Wahrheit, in deren Dienst er sein ganzes Leben stellt.

Und das war kein bequemes Leben, das dabei herauskam. Paulus beschreibt es selbst: „Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um.“ (2. Kor 4.9-10). Bedrängung, Angst, Verfolgung, Unterdrückung - all das nimmt Paulus auf sich, weil für ihn die Wahrheit auf dem Spiel steht.

Aber für Paulus war Wahrheit nicht ein abstrakter Begriff wie für die antiken Philosophen. Es war kein Gedankenkonstrukt, stringent-logisch deduziert aus bestimmten Grundannahmen. Wahrheit war für den gelernten Juden Paulus ein Bekenntnis, für das er mit seinem Leben einzustehen hatte. Wahrheit musste nicht nur formuliert, sondern vor allem auch bezeugt werden. Mit der Wahrheit stand nämlich nicht irgendetwas Abstraktes auf dem Spiel. An der Wahrheit hing die wichtigste aller Beziehungen: die zu Gott.

Und mit der Wahrheit, von der die Bibel redet, allemal. Die Wahrheit, von der die Bibel weiß, hat etwas mit Hören auf Gott zu tun, mit Erkennen, mit Sich-gesagt-sein-Lassen, mit Glauben und mit Bezeugen, was man zu verstehen glaubt. Diese Wahrheit steht nicht da wie heute morgen die Sonne am Himmel. Die scheint heute zumindest für jedermann wahrnehmbar und unausweichlich, und ganz unberührt davon, ob wir sie zur Kenntnis nehmen oder nicht. Das ändert ihren Status und ihre Wahrheit kein bisschen. Die Wahrheit, von der die Bibel redet, ist von ganz anderer Art. Sie leuchtet, anders als die Sonne, nur dem ein, der ihr Vertrauen schenkt. Nur dem, der denen vertraut, die sie verkünden, und der vor allem dem traut, von dem sie verkünden. Nur dem also, der bereit und fähig ist, in eine vertrauensvolle Beziehung mit diesem Gott zu treten, von dem die Bibel redet. Umgekehrt kann so ein Mensch, wenn er in einer vertrauensvollen Beziehung zu diesem Gott steht, gar nicht anders, als die Wahrheit Gottes zu bezeugen.

Dass die Kreuzigung Jesu Christi nicht ein Betriebsunfall der Geschichte war, sondern ein geradezu notwendiger Akt äußerster Hingabe Gottes an uns Menschen, dass die Auferweckung Jesu Christi nicht der Auftakt ist zu ekstatischen mythischen Vereinigungen mit Gott, sondern zu Gottes schöpferischem Handel durch den Tod hindurch – das lässt sich nicht aus allgemeinen Weltgesetzen oder irgendwelchen Grundannahmen herleiten. Das lässt sich folglich auch nicht objektiv beweisen. Das lässt sich nur subjektiv bezeugen, mit nichts anderem als der eigenen Wahrhaftigkeit als Unterstützung. Wir glauben nicht, weil uns die Theologie so überzeugt, wir glauben, weil wir glaubwürdige Menschen erlebt haben, die uns von ihrer Überzeugung erzählt haben. Und überzeugen kann diese Wahrheit überhaupt nur, wenn ich dem vertraue, der sie mir erzählt und bezeugt, weil ich überzeugt bin, dass er es ehrlich meint. Wahrheit ereignet sich in wahrhaftigen Beziehungen. Glaube ist Beziehungssache. Das ist, vermute ich mal, in allen Religionen so, aber in keiner – außer unserer eigenen Ursprungsreligion, dem Judentum – beruht der Glaube so sehr darauf, dass Gott zum Menschen in Beziehung tritt.

Deshalb ringt Paulus so sehr mit den Korinthern. Da geht es nicht darum, wahre Sätze zu vermitteln, sondern die Liebe Gottes den Menschen nahezubringen. Das sah er durchaus in Gefahr in Korinth. Ein Heilsegoismus hatte sich auszubreiten begonnen. Die einen, die Reichen, waren erfüllt von der Botschaft der Auferstehung, fühlten sich quasi schon auferstanden, und feierten das. Die anderen, die Ärmeren, die noch in ihrem Elend steckten, mussten sehen, wo sie blieben. Welch ein  Gott wäre das, der die Reichen reich und die Armen arm lässt, die Privilegierten in ihren Privilegien bestätigt und die Elenden im Elend lässt? Welch eine Liebe Gottes zu den Menschen wäre das? Es wäre nicht der biblische Gott, und es wäre nicht die Liebe, von der die Bibel redet. Es wäre ein Gott ohne eine echte Beziehung zu den echten Menschen in ihrem echten Sosein, in ihrem echten Leben und echten Elend. Es wäre also keine echte Liebe. Um die aber geht es Paulus.

Und wie anders könnte er diese Liebe vermitteln, als seinerseits in Beziehung zu bleiben mit den abtrünnigen Korinthern? Aufgeben gilt nicht. Paulus wirbt und bittet, argumentiert und plädiert. Er macht sich zum Affen für die Korinther, weil er glaubt, dass sie Gott wichtig sind. Deshalb wird Paulus nicht müde, darin wird er Tag für Tag erneuert.  Glaube braucht glaubwürdige Zeugen. Glaube ist Vertrauenssache. Jeden Tag neu muss Paulus, müssen wir Christen alle um dieses Vertrauen ringen, müssen wir es uns abringen, müssen wir es anderen entgegenbringen.

Paulus hätte allen Grund gehabt, am Sinn seiner Mission zu zweifeln. „Darum werden wir nicht müde“ – das klingt ein bisschen trotzig. Ein bisschen nach Selbstbestärkung gegen den eigenen inneren Zweifel. Gegen die eigene Müdigkeit. Dies ist nicht der erste Kampf in der Gemeinde von Korinth, den Paulus ausfechten muss. Es ist nicht der letzte. Die Korinther haben sich verführen und bezaubern lassen von den Gegnern des Paulus. Sie sind der Rhetorik der falschen Apostel erlegen, haben sich von deren Logik bestechen lassen und sind deren Visionen verfallen. Den Christuszeugen und Gottesbezeuger Paulus haben sie links liegen gelassen, ihn mit all seiner Hingabe und Aufopferung ins Leere laufen lassen.

War darum sinnlos, was Paulus getan hat? Waren seine Hingabe, seine Liebe vergebens? Seine Botschaft falsch? Ach was, sagt Paulus: Ich setze auf die langfristige Perspektive. Langfristig wird sich herausstellen: Das, was ich erleiden muss, geht vorüber. Ich, wir blicken nicht auf das, was wahrnehmbar und für jeden Tropf erkennbar ist. Ich, wir blicken auf das, was nicht sichtbar ist. Nicht berechenbar, nicht herzuleiten aus irgendeiner weltlichen, philosophischen oder religiösen Logik. Alles, was so einfach erkennbar und einleuchtend ist, das ist zeitlich. Es ist vorübergehend, es wird ein Ende haben.

Nein, das Unsichtbare muss uns interessieren. Das, was der Augenschein nicht hergibt. Das, was der Erfahrung zuwiderläuft. Das, was unsere Erfahrung bestreitet. Das, womit wir noch gar keine Erfahrung gemacht haben. Das ist ewig. Das allein kann ewig sein.

Ist das billiger Trost? Selbstvertröstung? Ist Paulus einfach nur ein an den Widrigkeiten seines Lebens Verzweifelnder, der trotzig und unbelehrbar nicht einsehen will, dass er aufs falsche Pferd gesetzt hat? Dass der Herr nicht wiederkommt? Dass die Welt nicht anders geworden ist seit dem Ereignis, das wir Kreuz und Auferstehung Jesu Christi nennen? Dass immer noch Tod und Krankheit unser Leben bestimmen, auch wenn wir trotzig versuchen, mit Vitaminpillen und Sportprogramm dagegen anzukämpfen?  Ist der ganze christliche Glaube am Ende nichts als eine Vertröstungsreligion, gerade mal geeignet, die Kraft zu vermitteln, auszuhalten, was ist?

Und wenn es so wäre – wäre das so schlimm? Was wäre schlecht an einem Glauben, der den Menschen hilft auszuhalten, was ist? Ein Glaube, der mir hilft, nicht unterzugehen, wenn ich verlassen werde? Ein Glaube, der mir hilft, nicht zu verzweifeln an Krieg und Hunger in der Welt, und an dem Wissen, dass ich daran nicht unschuldig bin? Ein Glaube, der verhindert, dass die Angst mich erstickt, wenn schwere Krankheit und Tod mich bedrohen?

Glaube kann all das sein. Aber wenn er es ist, dann, weil er Ausdruck einer lebendigen Beziehung ist. Wir sind doch nicht blöd. Wir wissen doch alle, was in der Welt los ist. Wir sehen doch selbst das Elend und sind ihm mitunter heftig ausgeliefert. Ein bisschen Autosuggestion, ein bisschen religiöse Verklärung der hässlichen Wirklichkeit, und alles ist gut? So naiv und kindlich ist unser Glaube doch längst nicht mehr. Dass er immer noch lebt, trotz allem noch lebt, hat seinen Grund nicht in uns. Es hat seinen Grund in Gott selbst: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ (2.Kor. 5,17). Das sagt Paulus wenig später im gleichen Brief.

Glauben heißt, ‚in Christus sein‘. Glaube heißt nicht, etwas für wahr zu halten, und seien es die ausgefeiltesten Glaubenssätze. Glauben heißt, in einer Verbindung zu Christus, zu Gott stehen. Wenigstens hin und wieder, zwischen mehr oder weniger großen Funklöchern. Wenigstens einen Handybalken stark, unter viel Rauschen und Knistern und Verbindungsstörungen immer wieder aufblinkend. Glaube heißt, darauf zu vertrauen, dass da ein lebendiges Etwas ist, das eine Verbindung zu mir sucht, und mich darauf einzulassen, womöglich gegen meine eigene Erfahrung, gegen mein eigenes Misstrauen, gegen meine eigene Verzagtheit. Gottes Liebe kommt uns zuvor. Sie ist uns in diesem Jesus von Nazareth zuvorgekommen, sie kommt uns immer neu zuvor: Ehe wir denn eine Bewegung auf Gott hin machen, ist seine Liebe uns schon zugewendet.

Glauben heißt, mehr noch als selber eine Verbindung zu Gott zu haben, darauf zu vertrauen, dass er in einer Beziehung zu mir steht. In einer Gemeinschaft, die er und nicht ich gestiftet hat, in der ich mich vorfinde. Die Dauer hat und auch da ist, wenn ich gerade von mir aus keine Verbindung spüre.

Und damit  stehe ich nicht allein da. Damit stehe ich in einer Gemeinschaft, zu deren Mitgliedern Gott die gleiche Beziehung hat wie zu mir. In einer Gemeinschaft von Menschen, die, wenn man so will, den gleichen kollektiven Wahn haben. Die für die gleiche Überzeugung einstehen, und auch dann, wenn sie gerade nicht dafür einstehen können, doch wenigstens verstehen, worum es geht. Die Beziehung Gottes zu uns Menschen ist nie nur einen vertikale, quasi von oben nach unten. Sie ist immer auch eine horizontale. Von mir zu dir, von uns zu euch, von ihm zu ihr. Die Wahrheit dieses unseres Gottes ist eine Beziehungsgeschichte, nicht nur zwischen ihm und Jesus, ihm und mir, ihm und euch. Sie ist auch eine Beziehungsgeschichte zwischen uns, die wir uns hier versammeln. Und weil das so ist, weil da Menschen sind, denen Gott auch etwas bedeutet, nur deshalb schaffe ich das, schaffen wir das, Trost zu finden, Kraft und Mut. Und wenn mal einer oder eine keinen Trost findet, keine Kraft und keinen Mut mehr hat – dann sind da all die anderen, die man an der Seite hat, die stellvertretend Trost, Kraft und Mut haben, die mitgehen und mittragen durch die dürre, harte Zeit. Dafür sind wir hier.

Heute, liebe Gemeinde, ist der Sonntag ‚Jubilate‘ – wie es im Psalm heißt: „jauchzt Gott, alle Lande, lobsinget zur Ehre seines Namens“. Gott loben, das ist die Aufgabe (nicht nur) des heutigen Sonntags.

Gott wollen wir loben für seine zuvorkommende Liebe, loben wollen wir ihn, dass er uns zu sich ruft und Beziehung zu uns stiftet. Loben wollen wir ihn für die Wolke wahrhaftiger Zeugen, die uns seine Liebe bezeugt und spürbar werden lässt. Loben wollen wir ihn, dass er unter uns Gemeinschaft ermöglicht. Loben wollen wir ihn, dass wir selber Zeugen seiner Liebe sein können. Loben wollen wir ihn, dass wir glauben dürfen, lieben und hoffen. Loben wollen wir ihn für allen Trost, alle Kraft und allen Mut.

Amen.

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Nach Oben